Heute ein längerer Artikel zum Thema Wandel, der sich an Jaron Lanier anschließt. Es ist inzwischen fast schon eine Binsenweisheit, dass wir in einer Zeit schneller Wandel leben – vor allem durch Informationstechnologie bedingt. Nicholas Carr beschreibt in seinem Buch „The Big Switch“, welche Auswirkungen diese Wandlungsprozesse auf Kultur und Wirtschaft haben.
Carr gilt als Provokateur, zumindest in der IT Branche. Seit seinem Artikel „IT doesn`t matter“ aus dem Jahr 2003 profilierte er sich als Skeptiker des Web 2.0 und der Informationstechnik. Sein Buch „The Big Switch“ macht auf jeden Fall von Anfang an einen sehr positiven Eindruck. Carr kann tatsächlich schreiben: „The Big Switch“ macht die Wandlungsprozesse durch digitale Medien begreifbar an Episoden aus der Technikgeschichte.
Der große Wandel
Die Entwicklung der Informationstechnologie befindet sich nach Carr heute vor einem entscheidenden Entwicklungsschritt. Wir sind in einer Zeit, die historisch der Elektrifizierung am Ende des 19. Jahrhunderts ähnelt.
Zu Beginn der Nutzung von Elektrizität gab es noch keine Netze, die Energie über weite Strecken transportierten, sondern Elektrizität wurde lokal hergestellt und verbraucht. Jede Fabrik hatte ein eigenes kleines Kraftwerk und versorgte sich auf diese Weise selbst mit elektrischer Energie.
Das änderte sich am Ende des 19. Jahrhundert als schrittweise große Kraftwerke und Netzwerke aufgebaut wurden und von Chicago aus ein nationales elektrisches Versorgungsnetz entstand. Elektrizität konnte mit großen Kraftwerken billiger produziert werden. Durch die technische Möglichkeit, elektrischen Strom mit Wechselspannung über große Distanzen zu übertragen, wurde zudem die Versorgung über Netzwerke lukrativ. Innerhalb weniger Generationen wurde so eine durchgehende elektrische Versorgung in den USA aufgebaut und dann in der gesamten (westlichen) Welt.
Informationstechnik entwickelt sich, so Carr, ganz ähnlich wie die Versorgung mit Elektrizität. In den Anfängen gab es lokale Computer, zuerst Mainframes mit Lochkarten. In diesen lokalen „Rechenmaschinen“ versorgten sich die Unternehmen mit den nötigen Rechenleistungen. Heute befinden wir uns dagegen im Zeitalter des Utility Computings.
Computer sind allgegenwärtig, Rechenleistung und Informationsverarbeitung werden immer stärker über das Internet von großen Monopolisten bereitgestellt. Google Apps machen die lokale Datenverarbeitung mit Bürosoftware überflüssig und Salesforce verlagert das Customer Relationship Management in das Internet. Computertechnik ist, ähnlich wie Elektrizität, eine „Allzwecktechnologie“ und wird über ein Netzwerk bereitgestellt.
Technik und Gesellschaft
Diese Veränderungen bleiben nicht ohne gesellschaftliche Auswirkungen. Die Elektrifizierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte, so Carr, verschiedene tiefgreifende Auswirkungen gehabt. Billige Massenproduktion wurde möglich, dadurch wuchs die Mittelklasse und unsere Freizeitgestaltung veränderte sich. Das Kino erlebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine erste Blüte, und die Nächte werden durch Elektrizität erst richtig hell.
Das Utility Computing treibt, ähnlich wie die Elektrifizierung, Wandlungsprozesse voran, die in ihren Konsequenzen noch nicht recht abzusehen sind. Nicolas Carr zeigt in einigen Episoden, welche Veränderungen angestoßen werden.
Von den Vielen zu den Wenigen
Führt das Internet, in seiner heutigen Form, zu einer egalitäreren Gesellschaft? Durch das Web 2.0 kann prinzipiell jeder zum Produzenten werden, die Frage ist nur, wer davon letztendlich profitiert?
Carr ist hier eher skeptisch, dass das Internet auch reelle Chancen bietet, an der Wertschöpfung teilzuhaben. Die Einkommen der Mittelschicht sind in den USA seit den 1980er Jahren kontinuierlich gesunken, weshalb Carr die ökonomischen Verheißungen des Web 2.0 bezweifelt. Statt Chancengleichheit oder eine egalitärere Gesellschaft sieht Carr eher Monopolisierungsprozesse der Anbieter im Web 2.0.
Was wird aus der Kultur?
Ähnlich sieht er auch die Auswirkungen des Web 2.0 auf die Kultur. Carr beschreibt die Veränderungen durch die fortschreitende Digitalisierung von Inhalten plastisch als die „Zerlegung der Einheiten“. Anstatt eine Zeitung zu beziehen, ist es mit einem Webangebot möglich, einzelne Artikel zu kaufen. Genauso ist das bei der Musik: Die Digitalisierung hat auch zu Folge, dass man einzelne Songs herunterladen kann, und keine vollen Alben mehr kaufen muss.
Anstatt ein Bündel zu kaufen, bezahlt man nun nur noch für das, was man tatsächlich will. Carr sieht diese Durchsetzung von Marktmechanismen auf Kulturgüter allerdings kritisch: Eine Kultur und eine Gesellschaft verändern sich, wenn man die Gestaltung sehr stark solchen Marktmechanismen überlässt.
Carr macht diesen Punkt an einem sehr plastischen Beispiel deutlich. Wieso kommt es in den USA zu so starken Segregationen (von lateinisch „segregatio“ für „Absonderung“, „Trennung“) in Wohngebieten? Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Menschen nicht rassistisch sind oder sozial benachteiligte Klassen bewusst ausschließen wollen, reichen schwache Präferenzen für die Wohnungswahl aus, um Homogenisierungen in Wohngebieten zu verursachen. Menschen, die die Wahl haben, ziehen dementsprechend andere Wohngebiete vor.
Etwas ähnliches kann auch im Internet geschehen. Anstatt einem stärkeren Austausch möglich zu machen, ist laut Carr eine Segregation in verschiedene Netzwerke und Communities genauso wahrscheinlich.
Was werden wir in Zukunft denken?
Auch die Möglichkeiten zur Freiheit im Internet sind begrenzt. Es gehört zu den Mythen des Internets, ein freier, ungebundenen Raum zu sein. Dieser Mythos wird spätestens seit Facebook und Google entkräftet. Durch das Internet werden Personen in ihrer Privatsphäre eingeschränkt für ein vages Freiheitsversprechen oder das Versprechen, von einem Dienst zu profitieren. Wie sich diese Veränderung in der Zukunft entwickeln wird, ist relativ offen genauso wie die Auswirkungen auf unser Denken.
Hier schneidet Carr ein interessantes Thema an, zu dem es bereits Hinweise in den Artikeln zur Hirnforschung gab. Das Internet ist, im Gegensatz zu den „Rechenmaschinen“ der 1960er Jahre, ein Raum, der sehr stark von menschlicher Intelligenz geschaffen wurde. Jede Verbindung, fast jeder Link wurde von Menschen gesetzt. Die Computertechnik wird durch diese Entwicklung dem menschlichen Denken ähnlicher und wir kommen vielleicht in eine Zeit, in der Menschen und Maschinen stärker verschmelzen. Welche Auswirkungen das für das menschliche Gehirn hat, bleibt allerdings vorerst eine offene Fragestellung, die auch von Carr nicht beantwortet werden kann.
Text: Michael Lindner