„You are not a Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht“ – von Jaron Lanier – Berlin: Suhrkamp Verlag, 2010 – 247 S. – ISBN: 978-3518422069 – 19,90 €
Jaron Lanier ist eine eigenwillige Erscheinung in der Welt der Informatiker und Computerwisssenschaftler. Der Programmierer, Künstler und Autor prägte den Begriff „virtuelle Realität“ und arbeitete als Informatiker für verschiedene amerikanische Universitäten. Seine doppelte Identität als Informatiker und Künstler gibt ihm einen besonderen Blick auf Entwicklungen des Web 2.0. Anders als viele Computerwissenschaftler tritt Lanier in seinem Buch „Your are not a Gadget“ als scharfer Kritiker der jüngeren Entwicklungen im Web 2.0 auf.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so Laniers Einstieg, hat sich das Internet gänzlich von seinen Versprechen und Verheißungen der Anfangsphase verabschiedet. In den 1990er Jahren war es noch ein Raum der Freiheit, ein anarchistisches Versuchslabor, das aber seit der Jahrtausendwende immer stärker von Konzernen dominiert wird. Durch diese Entwicklung schwindet der Raum für Kreativität und Individualität im Internet. Lanier vertritt gegen diese Tendenzen zur Uniformität eine Vision menschlicher Freiheit, die neue Formen der Kommunikation und Gestaltung im Internet erschließt.
Künstliche Intelligenz und Design
Das Design des Internets ist kein Zufall. Die Ausgestaltung des Internets ist durch Hintergrundannahmen und Theorien der an der Gestaltung beteiligten Computerwissenschaftler geprägt worden. Zu diesen Theorien und Traditionen der Informatik gehört in erster Linie die Forschung zur Künstlichen Intelligenz.
Lanier verfolgt diesen „philosophischen Unterbau“ des Internets bis zum Turingtest, einem Gedankenexperiment Alan Turings aus den 1950er Jahren. Intelligenz liegt in diesem Gedankenexperiment dann vor, wenn man nicht mehr unterscheiden kann, ob es sich bei dem Gegenüber um eine Person oder einen Computer handelt. Das bedeutet, ein Computer gilt dann als intelligent, wenn man mit ihm eine normale Konversation wie mit einer Person führen kann.
Zu den Grundannahmen der Künstlichen Intelligenz gehört also die Vorstellung, Bewusstsein und Intelligenz lassen sich durch komplexe Computermodelle, durch statistische Auswertung von Daten simulieren. Wenn in der Theorie der Künstlichen Intelligenz ein Computer ein normaler Gesprächsteilnehmer werden kann, dann muss sich Sprache, Bedeutung, Denken (und vielleicht auch Fühlen) mit Computerprogrammen nachbilden lassen. Diese Vorstellung von Intelligenz und Denken führt nach Lanier zu einer Art von Ideologie, dem digitalen Totalitarismus oder Maoismus, der seiner Ansicht nach unsere Kultur stark bestimmt.
So ist eine Folge dieser Ideologie, Informationen als Fragmente und Aggregationen (von lat. aggregatio, Anhäufung, Vereinigung) auszuweisen, eine typische Erscheinungsform des Web 2.0. Informationen werden vor allem als mathematisch erfassbare Gegenstände aufgefasst: Sie müssen mit anderen verknüpft sein, auffindbar und kombinierbar, und dabei ist weniger wichtig, wer Urheber eines Textes oder Bildes ist. Die Bedeutung einer Information besteht eher in der Anzahl der Aufrufe des Angebots, bei Facebook ist das der „Daumen Hoch Knopf“, bei einem Blog oder einer Seite die Besucherzahlen oder die Anzahl der Kommentare.
Diese Tendenz, technische und statistische Auswertungen aufzuwerten, macht auch den Autor eines Textes unwichtiger. So ist bei Wikipedia durch das Design des Angebotes die Autorschaft eines Artikels nicht mehr ersichtlich. Dadurch schlüpfe Wikipedia, so Lanier, in die Rolle eines modernen Orakels.
Die Kultur im Web 2.0
Diese Entwicklung des Designs von Webdiensten hat tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Kultur. Für Kulturschaffende wird es zunehmend schwerer, den Lebensunterhalt zu verdienen, da sich die Wertschöpfung auf die technischen Dienstleistungen verschoben hat. Youtube macht zwar Musik zugänglicher und es gibt die neue Möglichkeit Mashups von Werken zu gestalten, aber die Autoren haben es zunehmend schwerer, Geld mit Inhalten zu verdienen.
Die Entwertung kultureller Erzeugnisse wird unter anderem dadurch möglich, dass Klicks kostenlos sind, auch das Entscheidungen über das Design und den Aufbau des Internets. Genauso geht die Möglichkeit, anonyme Kommentare in der heutigen Form zu hinterlassen, auf Vorstellungen zur Künstlichen Intelligenz zurück. Statistische Auswertungen gelten für viele Computerwissenschaftler als den menschlichen Bewertungen letztlich überlegene und intelligentere Formen der Informationsverarbeitung. Es ist in dieser Logik nicht so sehr entscheidend, wer etwas sagt, sondern die statistische Auswertung einer großen Menge von Meinungsäußerungen trifft die Wahrheit am ehesten.
Die schädlichen Auswirkungen diese Tendenz, Entscheidungen letztlich Algorithmen zu überlassen, zeigte sich nach Lanier am deutlichsten in der Finanzkrise. Den Rechenmodellen wurde geglaubt, da in der Theorie der Künstlichen Intelligenz Entscheidungen, die auf mathematische Axiomen beruhen und durch große Rechenkraft gestützte werden objektiver sind als solche, die auf menschlichen Erfahrungen basieren.
Lanier bleibt aber nicht bei seiner Kritik stehen. Durch das Buch zieht sich der humanistische Gedanke, dass wir Menschen letztendlich unsere Umgebungen durch unsere Entscheidungen gestalten können. Das Internet ist eine fantastische Errungenschaft, die ohne Diktatur und Zwang innerhalb weniger Jahre verwirklicht wurde. Wir können aber entscheiden, wie wir mit dem Medium umgehen.
Warum die eigene Ausdrucksmöglichkeiten und Subjektivität beschränken durch die „Multiple-Choice-Persönlichkeiten“ Sozialer Netzwerke? Warum immer nur kurze Blogbeiträge, anstatt langer und reflektierten? Warum so wenig Mut zur Selbstdarstellung oder zu einem kreativen Umgang mit dem Medium? Für das zukünftige Design sollte es nach Larnier viel offenere Möglichkeiten der Kommunikation und des Selbstausdrucks geben, bis dahin können wir unsere Freiheit nutzen, die bestehenden Möglichkeiten stärker für unsere Bedürfnissen und Ausdrucksmöglichkeiten zu nutzen. Wie so etwas aussehen kann? Das kann man sehr gut an Laniers Homepage sehen!
Laniers Buch ist wirklich lesenswert, wenn auch an manchen Stellen nicht ganz einfach. Er spricht viele Punkte an, die sehr erhellend sind, vor allem die Auswirkungen von Philosophien und Designentscheidungen auf unsere heutigen Informationsumgebungen. Viel Freude macht das Buch, da es von einem richtigen Internetenthusiasten geschrieben wurde. Larnier hat zwar auf vieles einen sehr kritischen Blick, aber die humanistische Botschaft und sein Vertrauen, das Internet für gute Zwecke nutzen zu können, macht Lust auf eine Wiederentdeckung eines fast schon zu selbstverständlichen Mediums.
Text: Michael Lindner