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Wie das Internet unser Gehirn verändert: Nicholas Carrs The Shallows

The Shallows. What the Internet is Doing to our Brain“ von Nicholas Carr New York: Norton, 2011 280 S. ISBN: 978-0393339758 10,60
Wer bin ich, wenn ich online bin…: und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert“  von Nicholas Carr München: Blessing  384 S. ISBN: 978-3896674289 19,95 €

In meinem Google+ Stream gab es jetzt zwei Beiträge zu den Auswirkungen des Internets. Sowohl die Times als auch die Welt beschäftigen sich mit Veränderungen im Sozialverhalten und Aufmerksamkeitsdefizite durch soziale Medien. In seinem Buch „The Shallows“ beschreibt Nicholas Carr seine persönlichen Erfahrungen als Autor und intensiver Internetnutzer und vermittelt die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema.

„The Shallows“ erschien zuerst 2009 und war 2011 in der engeren Auswahl des Pulitzer Preises. Der Text ist im Stil einer persönlichen Forschung oder Erkundung gehalten. Carr beschäftigt sich als Autor seit vielen Jahren intensiv mit dem Internet und stellt inzwischen fest, dass sich offensichtlich sein Gehirn in den letzten Jahren verändert hat.

Seine Konzentrationsfähigkeit habe nachgelassen, vor allem wenn er liest oder schreibt. Er empfindet sich nicht mehr als lesender „Tiefseetaucher“, der einen Text in seiner ganzen Komplexität in einem sehr konzentrierten Zustand durchdringt (Carr nennt das auch „deep reading“ oder „close reading„), sondern ähnelt inzwischen eher einem Surfer an der Oberfläche, der Absatz für Absatz überfliegt.

Wie die Nutzung des Internets auf unser Gehirn einwirkt

Seit dem das Internet zum neuen universellen Medium avanciert ist, häufen sich Anzeichen auf die Auswirkungen auf Kultur und Gesellschaft. Nietzsche hat diesen Zusammenhang zwischen Werkzeugen und Personen bereits vor über hundert Jahren geahnt. Als er begann eine der ersten Schreibmaschinen zu benutzen, stellte er in einem Brief fest, dass die neue Art zu schreiben Auswirkungen auf den verfassten Inhalt hat.

Schreibkugel, wie sie Nietzsche ab den 1880er Jahren verwendete.

„Unser Schreibwerkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“ (Nietzsche 1882). Siehe dazu auch: http://www.collegium.ethz.ch/schreiben-am-netz/salon/Salon_Expose_Stingelin.pdf. Nach Carr verändern Werkzeuge zur Informationsverarbeitung generell unser Verhalten und die Kultur, in der wir leben. Dieser Punkt steckt auch in dem berühmten Ausspruch McLuhans „The Medium is the Message.“ Nicht die Inhalte sind das Entscheidende bei einem neuen Medium, sondern das Medium verursacht Veränderungen im Verhalten und der Kultur. Die Ablösung der mündlichen Kultur durch eine schriftliche bringt neue Fähigkeiten hervor und etwas ähnliches passiert, so Carr, heute durch die Etablierung der digitalen Kultur.

Dieser Wandel hat sehr grundlegende Auswirkungen; man kann laut Carr zugespitzt sagen, dass wir gewissermaßen mit neuen Techniken der Informationsverarbeitung auch ein neues Gehirn bekommen. Und das liegt an der Neuroplastizität des Gehirns. In den Neurowissenschaften gilt unser Gehirn bis in hohe Alter als formbar und veränderbar. Ein Blinder entwickelt neue Verknüpfungen im Gehirn, auch wenn er erst im Erwachsenenalter das Augenlicht verliert. Die Bereiche, die für die Verarbeitung visueller Informationen zuständig sind, werden im Gehirn des Blinden für die genauere Verarbeitung von Höreindrücken verwendet. Diese neurologischen Veränderungen zeigen sich genauso bei anderen Lernprozessen. Nach Carr sind beispielsweise in den Gehirnen von Taxifahrern oder Musikern bestimmte Arreale stärker ausgeprägt und vernetzt als bei anderen Menschen. Das Gehirn von Musikern lässt sich in diesem Zusammenhang wie eine Art von akustischer Landkarte beschreiben, was bedeutet, dass sich akustische Eindrücke bei einem Musiker anders vernetzen als bei einer Person, die kein Instrument spielt.

Der Computer: ein Ökosystem von Unterbrechungstechnologien

Ähnlich verhält es sich mit der Nutzung von Computern und dem Internet. Carr zeigt anhand einiger Studien von Psychologen der UCLA, dass sich die Gehirne von Menschen, die das Internet intensiv nutzen, stark von den Gehirnen jener Personen unterscheiden, die auf die Nutzung des Internets verzichten (130).

Multitasking am Computer

Wir prägen also mit dem neuen Werkzeug andere kognitive Verknüpfungen und Fähigkeiten aus und verlieren gleichzeitig auch Verknüpfungen. Die langfristigen Auswirkungen der Internetnutzung scheinen demnach ziemlich radikal zu sein. Die Fähigkeit, Texte zu verstehen, nimmt beispielsweise bei gleichzeitiger Internetnutzung rapide ab. Mit einem schönen Zitat des Bloggers Cory Doctorow nennt Carr den Computer ein „Ökosystem von Unterbrechungstechnologien„.

Wenn durch starke Internetnutzung das Gerhirn die Fähigkeit zum tiefen Lesen verliert, besteht laut Carr auch die Gefahr, dass kritisches Denken und Kreativität verloren gehen könnten. Der ständige Wechsel von Tätigkeiten führt dazu, weniger in der Lage zu sein, lineare und offene Reflexionsprozesse zu verfolgen.

Das Textlesen im Internet ist häufig ein ständiger Wechsel verschiedener Tätigkeiten: Neben dem Lesen muss man ständig  Entscheidungen treffen (Link folgen oder nicht?) und ist mit andern Medien (Bilder, Videos) oder Diensten beschäftigt. Das verbreitete Multitasking am Computer lässt sich nicht trainieren, die Ergebnisse von Studien zu diesem Thema zeigen, dass auch jüngere Menschen beim Multitasking immer schlechter abschneiden, als wenn sie bei einer Aufgabe bleiben.

Gleichzeitig gewinnen wir aber durch das Internet auch Fähigkeiten hinzu. Das rasche Auffassen von Informationen und Daten hat also auch gute Seiten. Schnelle Analysen von Daten, schnelleres Lesen und räumliche Vorstellung fallen intensiven Computernutzern leichter. Das Problem ist die Balance von verschiedenen Fähigkeiten. Nach Carr ist es wichtig, Texte und Informationen schnell erfassen zu können und zu überfliegen. Was passiert aber, wenn das die dominanten Form des Lesens wird?

FAZIT: Eines der besten Bücher zu dem Thema, das ich uneingeschränkt empfehlen kann. Besonders gut ist die neurophysiologische Fundierung von kulturellen Wandel; anders als in deutschen Diskussionen fundiert Carr seine Beobachtungen und Kulturkritik neurowissenschaftlich und psychologisch. Er bemüht sich dabei sehr um Ausgewogenheit: Auch wenn die kritischen Anmerkungen überwiegen, sind die von Carr beschriebenen  Änderungen nicht einfach nur schlecht, sondern die Internetnutzung bringt auch positive Veränderungen mit sich.

Für mich schließt sich die Frage an, wie man das beste aus beiden Welten bekommen kann: Wie ist es möglich, die Fähigkeiten zur Konzentration und zu tiefen Analysen oder Argumentationen zu erhalten und gleichzeitig von der neuen Informationskultur zu profitieren? Lässt sich Multitasking tatsächlich nicht trainieren? Welche Techniken gibt es, Multitasking besser zu gestalten?

Text: Michael Lindner

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