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Die Digitalisierung als Chance für die Bildung: Interview mit Ralph Müller-Eiselt

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„Die Digitalisierung wird die Bildung so tiefgreifend verändern wie zuvor vielleicht nur der Buchdruck oder die Schulpflicht“, sagt Ralph Müller-Eiselt. Welche konkreten Entwicklungen sich hinter dieser Aussage verbergen, erfahren Sie im Interview.

Lieber Herr Müller-Eiselt, Sie haben im letzten Jahr, zusammen mit Jörg Dräger, das Buch „Die digitale Bildungsrevolution“ geschrieben. Was war Ihre Motivation für dieses Buch und worin sehen Sie das revolutionäre Potential digitaler Bildung?

Die Digitalisierung wird die Bildung so tiefgreifend verändern wie zuvor vielleicht nur der Buchdruck oder die Schulpflicht. Internet und Big Data verändern das Lernen radikal. Dabei geht es um weit mehr, als Schulen und Universitäten mit Tablets oder Smartboards auszustatten. Die digitale Bildungsrevolution stellt auf den Kopf, wie wir lehren und lernen: weg von der Exklusivität für wenige in der westlichen Welt, hin zu globalen Massenangeboten; weg vom Einheitslernen nach striktem Lehrplan, hin zur individuellen Förderung für jeden; weg vom Renommee der Eliteinstitutionen, hin zu den tatsächlichen Kompetenzen des Einzelnen.

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Ralph Müller-Eiselt

All das lässt sich in den USA, Asien und Südamerika heute schon beobachten, in Deutschland ist davon allerdings noch wenig zu spüren. Es fehlt das Gefühl der Dringlichkeit – anders als in Amerika, wo die Bildungskosten explodieren, oder in Schwellenländern, wo es oft schlicht an Lehrern oder Gebäuden mangelt und digitales Lernen allein deshalb eine attraktive Alternative ist. Diese Probleme haben wir hierzulande glücklicherweise nicht. Aber auch unsere größte Herausforderung, die wachsende Vielfalt im der Lerner, werden wir ohne digitale Unterstützung nicht bewältigen können. Mit unserem Buch und seinen vielen Beispielen aus aller Welt möchten wir zeigen, wie das gehen kann. Digitales Lernen muss keine zusätzliche Belastung sein muss, sondern kann Teil der Lösung für bessere Bildung und mehr Chancengerechtigkeit sein.

Digitales Lernen hat sich in den letzten Jahren enorm entwickelt. Mit MOOCs (Massive Open Online Courses) sind neue Formate der digitalen Bildung entstanden, die sich inzwischen weiter ausdifferenziert haben. Können Sie kurz beschreiben, welche Möglichkeiten digitaler Fortbildung es heute schon gibt und welche Entwicklung digitales Lernen in Zukunft haben wird? 

Auf dem Weiterbildungsmarkt ist die digitale Revolution bereits viel weiter als in Schule oder Hochschule. Das Lernen verlagert sich mehr und mehr ins Netz, das Interesse an den Präsenzseminaren der klassischen Anbieter sinkt. In einigen großen Unternehmen gilt bereits das Online-First-Prinzip: Das digitale Angebot ist die Regel, wer noch eine traditionelle Fortbildung besuchen will, muss das extra begründen. Dabei geht es nicht so sehr um das Einsparen von Kosten, sondern vor allem darum, jedem genau das Weiterbildungsangebot zu bieten, das er oder sie gerade braucht. Solche maßgeschneiderten Lösungen sind in einem Standardseminar kaum möglich.

„Wer sich früh in virtuellen Teams übt, dem wird es später leichter fallen, auch so zu arbeiten: Er schätzt Sachverstand weit mehr als Hierarchie und Autorität; statt alter Wissensmonopole pflegt er eine Kultur des Austauschs und der Kooperation.“

 

Ralph Müller-Eiselt

Richtig ist aber auch: Kleine und mittelständige Unternehmen tun sich mit Weiterbildung im Allgemeinen und mit digitalen Angeboten im Besonderen noch deutlich schwerer. Hier ist sicher noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Und auch der Staat sollte sich seiner Verantwortung nicht entziehen: Angebote für einen Online-MBA werden auch ohne öffentliche Gelder entstehen, digitale Fortbildungsmöglichkeiten für den Langzeitarbeitslosen eher nicht.

Neben der einfacheren Verbreitung sehen Sie in Ihrem Buch auch die Individualisierung der Bildung als große Chance der Digitalisierung. An manchen amerikanischen Schulen werden bereits Lernpläne individuell erstellt, gibt es ähnliche Möglichkeiten zum individualisierten Lernen auch in der Erwachsenenbildung?

Wir müssen die Heterogenität der Menschen ernst nehmen. Lernmotivation, Lernstil und Lerntempo sind bei jedem anders. Je älter wir werden, umso vielfältiger sind unsere Lebenslagen, unsere beruflichen Qualifikationen wie auch die spezifischen Anforderungen. Deshalb brauchen wir auch und gerade in der Erwachsenenbildung personalisierte Lernwege. Dabei können digitale Lernangebote helfen, die nicht nur auf verschiedene individuelle Bedürfnisse und Ziele eingehen, sondern ähnlich wie gute Computerspiele auch hohe motivatorische Kraft entfalten können. Das digitale Lernen – richtig gemacht – passt sich dem Leben des Lerners an. Nicht umgekehrt.

Beim digitalen Lernen fällt der direkte Austausch mit dem Lehrenden weitgehend weg, Körpersprache und der direkte Austausch sind nur noch mittelbar erfahrbar. Welche Beschränkungen gibt es beim digitalen Lernen und wie lassen sich digitale und traditionelle Bildungsangebote sinnvoll verbinden?

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Mehr Chancen als Risiken in der digitalen Bildungsrevolution.

Ihre Frage spiegelt in gewisser Weise unser tradiertes Bildungssystem wider: Im Zentrum steht die Wissensvermittlung durch den einzelnen Lehrer oder Professor, gemeinsames Lernen der Schüler und Studenten findet meist nur selbst organisiert und außerhalb der Bildungsinstitution statt – dabei lernt man von Klassenkameraden und Kommilitonen mitunter sogar mehr. Genau solchen kollaborativen Lernprozessen kann die Digitalisierung nun aber endlich zum Durchbruch verhelfen. Die sogenannte Peer-to-Peer University etwa bietet ein digitales Forum für Weiterbildungswillige aus aller Welt, die Interesse am selben Thema haben, sich online vernetzen und gemeinsam lernen möchten. Wer sich aufs Netzwerklernen über digitale Plattformen und Foren einlässt, entwickelt wichtige Schlüsselkompetenzen für die Arbeitswelt der Zukunft. Wer sich früh in virtuellen Teams übt, dem wird es später leichter fallen, auch so zu arbeiten: Er schätzt Sachverstand weit mehr als Hierarchie und Autorität; statt alter Wissensmonopole pflegt er eine Kultur des Austauschs und der Kooperation.

Letztlich geht es aber gar nicht um Online- oder Präsenzlernen. Der Mix macht es. An Hochschulen etwa wird es sicher weiter Vorlesungen geben, wir werden auch in Zukunft nicht rein digital lernen, aber eben auch nicht mehr rein analog. Manche Vorlesung wird einfach besser im Netz sein, mal wegen der phantastischen Professorin, mal wegen der anschaulichen Versuche oder Simulationen, die sich so nicht im Hörsaal realisieren lassen. Manches Seminar wird aber auch künftig besser in der Kleingruppe vor Ort funktionieren als im Internet. Und es wird viele Angebote geben, die analoge und digitale Elemente miteinander so verknüpfen, wie es eben für den Lernerfolg am besten ist.

Das deutsche Bildungssystem wird seit der ersten Pisastudie wegen der mangelhaften Chancengerechtigkeit kritisiert. Können digitale Angebote Bildung hier einen Beitrag leisten und Bildung mehr Menschen zugänglich machen?

Die Demokratisierung der Bildung, also der günstige und einfache Zugang für die Hochmotivierten in aller Welt, ist nur der sichtbarste Mehrwert der Digitalisierung – „Harvard für alle“ haben wir das in unserem Buch etwas zugespitzt genannt. Noch größere Chancen, gerade für Deutschland, stecken aber im persönlich zugeschnittenen Lernen und der entsprechenden Orientierung. Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten sind durchaus vielversprechend: Schüler lernen 50 Prozent mehr als in analogen Klassen, gerade bildungsferne Studierende schließen ihr Studium mit Hilfe von Algorithmen und Big Data deutlich häufiger in der Regelstudienzeit ab.

„Noch wird digitales Lernen in Deutschland überwiegend als zusätzliches Problem wahrgenommen. Politik und Bildungseinrichtungen müssen verstehen, dass Digitalisierung Teil der Lösung ihrer Herausforderungen ist.“

 

Ralph Müller-Eiselt

So wie Netflix Film- und Amazon Kauftipps gibt, setzen immer mehr amerikanische Hochschulen Software ein, um jedem Studenten die Vorlesungen zu empfehlen, die seine Interessen und Fähigkeiten treffen – und bei denen er eine realistische Chance hat, diese auch zu bestehen. Gerade Jugendlichen aus bildungsfernen Familien ermöglichen diese Daten die für eine erfolgreiche Karriere notwendige Orientierung. Bei allein mehr als 18.000 Studiengängen ist digitale Hilfe auf dem Weg durch den Bildungsdschungel auch in Deutschland eine echte Frage der Chancengerechtigkeit.

Wie sehen Sie die Entwicklung digitaler Bildung in Deutschland? Deutsche Angebote sind bis heute noch deutlich unterrepräsentiert. Wie wird sich Ihrer Meinung nach der deutsche Markt entwickeln und wird digitale Bildung in Deutschland akzeptiert?

Verglichen mit Asien, Südamerika oder Amerika stehen wir hier ganz am Anfang. Deutsche Lehrer sind im internationalen Vergleich deutlich kritischer und schlechter ausgebildet im Umgang mit digitalen Medien, nirgendwo werden Computer seltener im Unterricht eingesetzt als bei uns. Natürlich gibt es auch hierzulande einzelne Pioniere in Klassenzimmern und Hörsälen, die innovative Technologie in beeindruckender Weise nutzen, um individuell zugeschnittenes Lernen zu ermöglichen. Das beruht jedoch vor allem auf viel persönlichem Einsatz; ganze Schulen, Hochschulen oder gar das Bildungssystem hat die Digitalisierung hierzulande noch nicht erreicht.

Den großen Chancen stehen natürlich auch große Risiken gegenüber, im schlimmsten Fall fördert die Digitalisierung nicht mehr Gerechtigkeit, sondern schafft mehr Ungerechtigkeit. Wenn bildungsferne junge Menschen das Internet und ihre elektronischen Geräte nicht sinnvoll nutzen, wenn Lerndaten zweckentfremdet und missbraucht werden, dann droht die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft weiter zuzunehmen. Gerade im Bewusstsein dieser Risiken sind wir alle gefordert, den digitalen Wandel aktiv zum Guten zu gestalten. Skepsis und Ablehnung jedenfalls werden ihn auf Dauer auch in der Bildung nicht aufhalten können.

Die Digitalisierung hat auch zu größeren wirtschaftlichen Umbrüchen geführt, etwa in der Musikindustrie, bei Zeitungen und Verlagen. Wie müssen sich Hochschulen, Schulen und die Erwachsenenbildung aufstellen, um mit den Folgen des digitalen Wandels in Zukunft konstruktiv umzugehen?

Noch wird digitales Lernen in Deutschland überwiegend als zusätzliches Problem wahrgenommen. Politik und Bildungseinrichtungen müssen verstehen, dass Digitalisierung Teil der Lösung ihrer Herausforderungen ist. Für Hochschulen und Weiterbildungsanbieter gilt: Angriff ist die beste Verteidigung. Sie brauchen dringend Strategien, wie sie die unausweichliche Digitalisierung in ihr System integrieren. Nicht jede Universität oder Fachhochschule muss sich vollständig digitalisieren, nicht jede selbst Onlinekurse produzieren, aber alle sollten sich über die eigenen strategischen Ziele klar sein und ihre Angebote entsprechend ausrichten. Schulen wiederum sind gut beraten, die digitalen Innovationen als Wegbereiter einer neuen Pädagogik zu nutzen. Dabei ändert sich die Rolle der Lehrenden fundamental – sie werden von Wissensvermittlern zu Lernbegleitern.

„Digitale Kompetenzprofile schaffen zukünftig mehr Transparenz über die tatsächlichen Fähigkeiten jedes Einzelnen. Das ist nützlich für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber, macht den Arbeitsmarkt offener und fairer. Wenn Arbeitgeber Vertrauen in solche Verfahren fassen, werden Jobs und Jobsuchende schneller und besser zusammenfinden.“

 

Ralph Müller-Eiselt

Trotz Unsicherheiten, Hürden und Widerständen: Aussitzen lässt sich die digitale Bildungsrevolution nicht. Auch deutsche Schulen und Hochschulen werden sich ihr dauerhaft nicht entziehen können. Es braucht aber auch die richtigen Rahmenbedingungen, damit sich ein „digitales Ökosystem“ entwickeln kann. Faire Teilhabe für alle muss dabei die politische Leitschnur sein, nach der wir die digitale Revolution gestalten.

Zum Schluss noch eine Frage zur Entwicklung des Lernens generell. Lebenslanges Lernen wird von der Politik gerne propagiert und gefordert, das Konzept bleibt aber häufig sehr blass. Wie wird sich die Erwachsenenbildung in Zukunft wandeln, und welche Rolle wird die Digitalisierung beim Lebenslangen Lernen spielen?

Flexible Fort- und Weiterbildung wird künftig immer wichtiger werden. Nicht nur weil Wirtschaft und Gesellschaft das in Zeiten immer schnellerer Innovationszyklen dringend benötigen, sondern auch weil Weiterbildung für jeden einzelnen von uns wertvoller wird. Hier spielen digitale Technologien eine wesentliche Rolle: Sie erfassen eine größere Bandbreite an Wissen und persönlichen Kompetenzen, egal ob diese auf dem Campus, in der Firma oder im Netz erworben wurden. Digitale Kompetenzprofile schaffen zukünftig mehr Transparenz über die tatsächlichen Fähigkeiten jedes Einzelnen. Das ist nützlich für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber, macht den Arbeitsmarkt offener und fairer. Wenn Arbeitgeber Vertrauen in solche Verfahren fassen, werden Jobs und Jobsuchende schneller und besser zusammenfinden. Internet-Plattformen arbeiten bereits an solchen Big-Data-basierten Matching-Modellen. Davon werden auch diejenigen profitieren, die nicht die Chance auf einen klassischen Studien- oder Berufsabschluss hatten. Denn für das passende Paar in der Arbeitswelt zählen Können und Leistung dann mehr als Kontakte und der perfekte Lebenslauf.

Herr Müller-Eiselt, vielen Dank für das Gespräch!

Das Buch „Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können“ gibt es für 17,99 € in jeder Buchhandlung oder bei Amazon. Auch als eBook für 13,99 €.

Hier geht es zur Leseprobe.

Profil Ralph Müller-EiseltRalph Müller-Eiselt, Jahrgang 1982, befasst sich jeden Tag mit den gesellschaftlichen Auswirkungen, Chancen und Risiken der Digitalisierung. Nach Stationen an der Leuphana Universität Lüneburg und im Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur leitet er bei der Bertelsmann Stiftung als Senior Expert das Projekt „Teilhabe in einer digitalisierten Welt“. Der Autor des bei Buches „Die digitale Bildungsrevolution“ bloggt (www.digitalisierung-bildung.de) und twittert (@bildungsmann, @Bildung_Digital) über die Bildung von morgen.

2 Kommentare

  1. Anonymous sagt

    Hallo Julian,

    ich bin da ganz deiner Meinung. Schaut man sich an, wie weit einzelne Universitäten in den USA in Sachen digitaler Bildung sind, gewinnt man tatsächlich den Eindruck, dass die Entwicklung dort schon wesentlich weiter ist.

    Aber auch hierzulande gibt es ja bereits einige interessante Plattformen, etwa iversity, wobei ich gerade bemerkenswerterweise gelesen habe, dass die schon die Insolvenz angemeldet haben.

    Und richtig: das Handwerkszeug lernt man eher nicht an der Schule. Sehr vorbildlich ist hier übrigens die Gesamtschule Barmen, die dafür auch einen Preis gewonnen hat …

  2. Danke für das interessante Interview.

    Ich sehe leider auch, dass wir in Sachen digitaler Bildung noch immer sehr weit zurückhängen.

    Sind wir mal ehrlich? Wie hat jeder von uns das digitale Handwerkszeug erlernt, das er heute beherrscht? Mit großer Sicherheit nicht in der Schule!

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