New Work ‒ Selbstmanagement ‒ Digital Workflow : Beiträge von 2012 bis 2015
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Mit Julia ins Reich der Gehirnforschung_Folge 3

Julia versuchte zunächst, ihre Gedanken bezüglich ihres persönlichen Wissensprojektes zu ordnen. Es existieren so viele unterschiedliche Themen, die mit den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung und den Konsequenzen für Lernen und Lehren verbunden sind, dachte sie.

Etwas Grundlagentheorie. Wie ist etwa das Gehirn aufgebaut? Welche Areale sind beispielsweise für das Abspeichern von Informationen zuständig? Wie funktioniert unser Arbeitsspeicher, unser Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis? Was gilt es beim Aufnehmen von Informationen zu beachten, damit jede neue Information auch tatsächlich im bereits vorhandenen Wissen einen sinnvollen Platz einnehmen und sich entsprechend vernetzen kann?

Bevor sie sich dem Aufbau des Gehirns und spezielleren Verarbeitungsprozessen wie etwa Gedächtnisbildung und multisensorische Verarbeitung von Informationen widmete, also den verschiedenen Sinnesmodalitäten wie Sehen, Hören und Fühlen, dachte sie zuallererst an die Fähigkeit des Gehirns, sich bis ins hohe Alter zu verändern und zu entwickeln. Dieser Gedanke kam ihr beim Joggen. Sie dachte vor allem an Opa Heinz.

Opa Heinz hatte, bevor er in Rente gegangen war, beinahe fünfzig Jahre lang für eine Firma als Facharbeiter für Werkzeugmaschinen gearbeitet, was heute kaum noch vorstellbar ist. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Maschinen einzurichten, sie zu pflegen und zu warten. Außerdem war er an der Planung von Arbeitsabläufen beteiligt und kontrollierte die Qualität der Werkstücke.

Als er sich schließlich zur Ruhe gesetzt hatte, begeisterte er sich zunehmend für Computer und für das Internet. Und obwohl er zuvor keinen Computer besaß, auch wenn er sich generell – schon berufsbedingt – stark für technologische Entwicklungen interessierte, eignete er sich in relativ kurzer Zeit in autodidaktischer Manier die wesentlichen Grundkenntnisse an: etwa wie ein Computer aufgebaut ist, wie das Betriebssystem und Anwenderprogramme funktionieren, bis hin zu Google mit all seinen Möglichkeiten, ob Recherche, E-Mails schreiben und verschicken oder Google Earth benutzen. Das hatte Julia fasziniert. Die Geschwindigkeit, mit der sich Opa Heinz in diese für ihn relativ neue digitale Welt hineingefuchst hatte.

Die enorme Lernfähigkeit unseres Gehirns

Was hat es mit dem lebenslangen Lernen aus Hirnperspektive auf sich? Entgegen früherer Auffassungen sind unsere neuronalen Netze das ganze Leben lang plastisch, das heißt, sie lassen sich bis ins hohe Alter verändern und entwickeln – eine an sich sehr erfreuliche Botschaft aus den Neurowissenschaften.

Die Großhirnrinde erweist sich dabei als einzigartig anpassungsfähig, da sie über eine sich beständig selbst optimierende Struktur verfügt. Und genau das ist auch der Grund dafür, dass nicht nur Kinder und junge Erwachsene extrem lernfähig sind, sondern auch Menschen wie Opa Heinz. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Menschen mit zunehmendem Alter langsamer lernen. Dafür verfügen aber ältere Menschen über Möglichkeiten des Lernens durch Analogiebildung (Analogie = Entsprechung, Ähnlichkeit) und eine bessere Priorisierung von Informationen, was beispielsweise bei Kindern eher nicht der Fall ist.

Die zweite frohe Botschaft: Wir Menschen haben ein Gehirn, das über weitaus mehr Potenzial verfügt, als wir tatsächlich nutzen. Diese Botschaft verkündete etwa der Hirnforscher Gerald Hüther bei einem Vortrag über den neuen Lernprozess, den sich Julia auf YouTube angeschaut hatte.

„Die genetischen Programme wissen nicht, wie viele Nervenzellen am Ende für ein gutes Gehirn gebraucht werden“, sagt Hüther. Wenn wir uns also beim Lernen neuen Themen mit Begeisterung zuwenden, kommt es im Hirn dazu, dass sich die Neuronen weiter vernetzen und somit mehr Potenzial ausgeschöpft wird. Wie viel Potenzial letztendlich ausgeschöpft werden kann, ist wiederum eine andere Frage.

Julia dachte bei dieser Frage an den berühmten Physiker Stephen Hawking.1963 diagnostizierte man bei ihm eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Mediziner prophezeiten ihm daraufhin, nur noch wenige Jahre zu leben. Trotz dieser Prophezeiung lebt er auch heute noch und hat bahnbrechende Studien auf dem Gebiet der Physik der schwarzen Löcher veröffentlicht, die von einem unglaublichen Hirnpotenzial zeugen.

Ein weiteres Beispiel für die enorme Lernfähigkeit unseres Gehirns ist mit der Volkskrankheit Schlaganfall verbunden. Als Julia neulich Beckmann im Ersten schaute, stellte sie mit Erschütterung fest, dass nicht nur ältere Menschen von dieser Krankheit betroffen sind, sondern zunehmend auch jüngere: Etwa zehn Prozent der Schlaganfall-Opfer sind nämlich unter fünfzig Jahre alt.

Bei Beckmann war u. a. der junge Mann Viktor Wedel mit seiner Ehefrau Larissa zu Gast. 2009 erlitt der damals 24-jährige einen Schlaganfall. In einer mehrmonatigen Reha musste Wedel das Sprechen und Lesen mühsam neu erlernen, was Julia vor dem Hintergrund der enormen Lernfähigkeit unseres Gehirns zu der Frage veranlasste, wie es möglich ist, sich scheinbar verloren gegangene Fähigkeiten wie Sprechen und Lesen in relativ kurzer Zeit wieder anzueignen?

Bei einer Recherche im Internet stieß sie dabei auf folgendem Befund: Nach einem Schlaganfall erweist sich das Gehirn als extrem lernfähig. Für einen Zeitraum von etwa sechs Monaten fällt das Gehirn in ein jugendliches und damit extrem lernfähiges Frühstadium zurück.

Das haben u. a. Jenaer Forscher herausgefunden. Diese Erkenntnis gilt es also bei den Betroffenen so gut wie möglich zu nutzen. Am Ende – und das ist hier bei aller Tragik sehr positiv – können manche Patienten beinahe so gut sprechen und lesen wie vorher.

Text: Marcus Klug

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