Leben wir in einer Informations- oder in einer Wissensgesellschaft? Wo besteht eigentlich der Unterschied? Wie gehen wir mit all den Informationen um, die das Internet für uns bereithält? Wo ist das Wissen, das sich in all diesen Informationen verbirgt? Und wie wird aus Wissen ein Produktivfaktor? Solche und ähnliche Fragen beschäftigen mich nun schon seit ein paar Wochen.
Irgendwie werde ich die Vermutung nicht los, dass wir noch lange nicht in einer Wissensgesellschaft angekommen sind. Diese Vermutung stütze ich auf einen seltsamen Widerspruch, der mir immer bewusster wird: Einerseits nimmt der Anteil an wissensintensiven Dienstleistungen stark zu, andererseits setzt Wissen ja gerade voraus, dass wir dazu in der Lage sind, aus einer Vielzahl von Informationen zu selektieren und die wichtigsten Informationen durch Lernprozesse in unserem Langzeitgedächtnis zu verankern, um daraus die geeigneten Strategien abzuleiten.
Dies gilt umso mehr, wenn sich größere Umwälzungsprozesse ankündigen – wie aktuell durch die digitale Revolution bedingt. Nicht nur die Wirtschaft steht vor einer massiven Umverteilung, sondern auch die Gesellschaft an sich. Mit der digitalen Revolution ändern sich sowohl die Spielregeln auf dem Arbeitsmarkt, das Bildungssystem als auch die Anforderungen an einzelne Individuen, die sich auch mental auf diese Revolution einstellen sollten – Stichwort: „Lebenslanges Lernen“.
Wissen als Produktivfaktor
Schon 1969 hatte der Vater des modernen Managements – Peter F. Drucker – in seinem wegweisenden Buch „The Age of Discontinuity“ (der Titel der deutschen Ausgabe lautet: „Die Zukunft bewältigen. Aufgaben und Chancen im Zeitalter der Ungewißheit“) den Übergang vom Industriezeitalter zur Wissensgesellschaft verkündet. Neben der Hauptthese, dass sich in absehbarer Zeit durch neue Technologien auch neue Industriezweige herausbilden würden, die primär auf wissenschaftliche Erkenntnisse basieren, beschäftigte sich Drucker insbesondere mit der Frage, wie aus Wissen ein Produktivfaktor wird und das heißt: Wie kann Wissen auf Wissen angewendet werden?
Heute ist der Wandel zur Dienstleitungsgesellschaft längst vollzogen, wobei dieser Wandel noch kein Zeugnis dafür ist, wie wissensintensiv die Dienstleistungen sind, die sich auf den tertiären Sektor beziehen, wie es im Fachjargon heißt. Zum Primärsektor (auch Urproduktion genannt) gehören u. a. Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei. Der Sekündärsektor umfasst dagegen das produzierende Gewerbe einer Volkswirtschaft, also den industriellen Sektor.
2011 waren rund 74 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland im Dienstleistungssektor beschäftigt. Zuwächse gegenüber dem Vorjahr erzielten insbesondere unternehmensbezogene Dienstleister. Der Anteil der Dienstleistungen an der Bruttowertschöpfung lag damit 2011 bei sagenhaften 69 Prozent. Noch aufschlussreicher wird dieser Wert, wenn wir zwischen wissensintensiven und weniger wissensintensiven Dienstleistungen unterscheiden.
Wie wir an dieser Gegenüberstellung sehen, dominieren in den wissensintensiven Branchen die drei Bereiche „Forschung & Entwicklung“, „Bildung“ und „IT Dienstleistungen“, während in den nicht wissensintensiven Branchen vor allem das „Gastgewerbe“ den Hauptanteil ausmacht. Wichtig ist bei diesem Vergleich zudem zu beachten, dass die wissensintensiven Branchen noch nicht den Löwenanteil markieren. Wäre das der Fall, so würde ein Hauptteil der 69 Prozent, die sich mitterweile in der Bruttowertschöfpung auf den Dienstleistungssektor beziehen, durch „Forschung & Entwicklung“, „Bildung“ und „IT Dienstleistungen“ zustande kommen. Bei den „IT Dienstleistungen“ sollte außerdem berücksichtigt werden, dass sowohl in wissensintensiven als auch in weniger wissensintensiven Branchen der Computer als Arbeitswerkzeug mittlerweile in vielen Bereichen nicht mehr wegzudenken ist.
Die Auswirkungen der digitalen Revolution
Die Duchdringung der digitalen Technologie am Arbeitsplatz, die immer weiter fortschreitet, bestimmt auch derzeit die massive Umverteilung in der Wirtschaft. Die digitale Revolution ist dabei, eine Branche nach der anderen grundlegend und nachhaltig zu verändern: So erwirtschaftete beispielsweise der deutsche Buchmarkt im Jahr 2011 einen Umsatz von 9,6 Milliarden Euro zu Endverbraucherpreisen und musste damit einen Umsatzrückgang um 1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr hinnehmen. Es ist damit zu rechnen, dass sich diese Tendenz noch weiter fortsetzen wird, wenn nicht frühzeitig reagiert wird oder die entsprechenden Nischen besetzt werden.
Als in den 1990iger Jahren die Major-Labels innerhalb der Musikindustrie rigorose Umsatzeinbußen hinnehmen mussten, profitierte das ein oder andere Independent-Label von der Nischenbildung und einer wesentlich intelligenteren Distributionspolitik: Man hatte hier nämlich wesentlich schneller die tiefgreifenden Umwälzungen erkannt, die sich mit der Umstellung auf mp3 und einem veränderten Kosumentenverhalten anbahnten, und daraus die richtigen Konsequenzen gezogen.
Was sich auf dem Buchmarkt ankündigt, ist – ähnlich wie das in den 1990iger Jahren auch in der Musikindustrie geschehen ist – der Wandel zum Digitalbusiness, was zwar nicht bedeutet, dass das traditionelle Buchgeschäft zukünftig keine Rolle mehr spielen wird (so wie auch weiterhin Platten und CDs gekauft werden), jedoch zunehmend mehr durch eine veränderte Vertriebslogik und Produktpolitik bestimmt wird. Amazon ist für diesen massiven Umverteilungsprozess ein schlagender Beleg, aber auch der Umsatzanteil von E-Books am Buchmarkt.
So hat sich laut Erkenntnissen aus der Konsumenten-Studie „Markt mit Perspektiven – das E-Book in Deutschland 2011“, die der Börsenverein zusammen mit GfK Panel Services bereits zum zweiten Mal durchgeführt hat, der Umsatzanteil von E-Books am Buchmarkt im Jahr 2011 auf 1 Prozent verdoppelt (2010: 0,5 Prozent). Ein Blick auf amerikanische Verhältnisse in diesem Marktsegment verdeutlicht diesen Wandel noch wesentlich drastischer: In den USA hat sich der E-Book-Boom im Jahr 2011 bereits mehr als verdoppelt – und durchbrach erstmals die Milliarden-Dollar-Grenze! Wir können also davon ausgehen, dass sich diese Entwicklung auch in Deutschland weiter fortsetzen wird, wenn auch nicht mit der gleichen rasanten Geschwindigkeit.
Vor dem Hintergrund der digitalen Entwicklung und der massiven Umverteilung stehen auch viele deutsche Unternehmen vor einem echten Strukturwandel und damit vor einer großen Herausforderung. Beispiele dafür sind etwa die Telekom oder SAP – das einzige größere deutsche IT-Unternehmen von Weltrang.
Nachdem 2009 die SAP-Erlöse dramatisch einbrachen, versuchte es der damalige Vorstandschef Léo Apotheker mit einem Sparplan: Ohne Erfolg! Erst mit der „neuen Architektur“ von Hasso Plattner kam der Gesinnungswechsel: SAP will zukünftig mehr auf neue Technologien setzen, etwa auf Cloud Computing und mit mehr Frechheit und Kreativität punkten.
Angeheizt durch die Nachfrage im Smartphone- und Tablet-Markt, durch Cloud Computing und Social Media, steigt zugleich auch die Unsicherheit, wenn es um die Frage geht, wie durch diese digitalen Technologien die gesamte Wertschöpfungskette umgekrempelt werden soll und welche Strategien dazu geeignet sind, auch zukünftig noch erfolgreich am Markt zu agieren.
Auf Wissen angewendet, schließt sich die Frage an, wie wir mit den Informationen zu diesen Veränderungsprozessen umgehen und welche Schlüsse wir daraus ziehen – sowohl als Unternehmer als auch als einzelner Angestellter oder auch als lernendes Individuum.
Fluch oder Segen?
Die These lautet, dass sich vor unserer aller Augen eine dramatische Veränderung vollzieht, die erst dann bei uns angekommen ist, wenn sie im Wissen verankert wurde. Solange das noch nicht der Fall ist, leben wir auch noch nicht in einer Wissensgesellschaft. Wir erleben also derzeit – in digitaler Hinsicht – den allmählichen Übergang von der Informations- zur Wissensgesellschaft.
Es existieren zahlreiche Belege, die diese Vermutung stützen. Die digitale Revolution könnte ähnliche dramatische Folgen haben wie die industrielle im 19. Jahrhundert. Manche Soziologen, wie etwa Dirk Baecker, vergleichen dieses Übergangszeitalter gar mit den dramatischen Folgen, die einst mit der Einführung des Buchdrucks verbunden waren: „Wir haben es mit nichts Geringerem zu tun als mit der Vermutung, dass die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen hat wie zuvor nur die Einführung der Sprache, die Schrift und des Buchdrucks“, so Baecker in seinem Buch „Studien zur nächsten Gesellschaft“. Konsequenterweise spricht Baecker von „der nächsten Gesellschaft“, eine Bezeichnung, die uns dafür sensibilisiert, dass wir noch nicht wirklich abschätzen können, wohin uns diese Umwälzungsprozesse führen werden.
Fluch oder Segen? Die digitale Revolution ist beides: sowohl ein Fluch als auch ein Segen. Der Fluch besteht darin, dass wir noch nicht wirklich gelernt haben, mit der Vielzahl an Möglichkeiten souverän umzugehen, die durch die digitale Revolution aufgeworfen werden. Wir gelangen also nicht automatisch von diesen potentiellen Möglichkeiten zu mehr Wissen und schließlich zur Anwendung.
Im Gegenteil: Die Vielzahl an Optionen kann genausogut auch ein Hindernis für die Aneignung und Anwendung von Wissen sein. Wie gelangen wir also im digitalen Zeitalter zu mehr Wissen? Und wird aus der Informationsgesellschaft eine Wissensgesellschaft?
Lesen Sie in der nächsten Folge von „Komplexes Denken im digitalen Zeitalter“ mehr zu der Frage, worin der Unterschied zwischen Information und Wissen vor dem Hintergrund der digitalen Revolution besteht, und warum Wissen auch weiterhin auf Tiefe angewiesen ist, gerade wenn es um nachhaltiges Lernen und Verinnerlichung geht. Ich schließe mit meiner Vermutung, dass wir noch lange nicht im Zeitalter des Wissens angekommen sind. Oder wissen Sie schon, wie es demnächst weitergeht?
Text: Marcus Klug