Kein anderer Dienst hat sich in Deutschland seit 2009 so schnell verbreitet wie WhatsApp – und zwar generationenübergreifend. Was ist das Erfolgsrezept und wie gelingt es WhatsApp im eher technikskeptischen Deutschland innerhalb von fünf Jahren die Nutzerzahlen von Facebook zu übertreffen? WhatsApp ist auf die Kommunikation im persönlichen Umfeld zugeschnitten und bedient damit die in Deutschland vorherrschende Norm der Privatheit.
Bekannt wurde der Dienst im Februar durch die Übernahme durch Facebook, bei der insgesamt die spektakuläre Summe von 19 Milliarden Dollar gezahlt wurde. Wie bei anderen Start-Ups zeichnete sich diese Übernahme dadurch aus, dass die gezahlte Summe in keinem Verhältnis zu den tatsächlich erwirtschafteten Umsatz oder Gewinnen des Unternehmens steht. Es ging Facebook beim Erwerb von WhatsApp anscheinend vor allem darum, einen populären Dienst mit vielen Nutzern zu erwerben und damit für die jüngere Generation weiterhin relevant zu bleiben (Facebook kauft Relevant, FAZ 20.02.2014). Und wenn Sie nur die Nutzerzahlen betrachtet, ist WhatsApp tatsächlich ein Phänomen, vor allem in Deutschland.
Weltweit hat der Dienst bereits 2013 die 400 Millionen Marke erreicht, im Jahr 2014 nutzen laut offiziellen Angaben insgesamt über 500 Millionen Menschen WhatsApp (WhatsApp Hits 500 Million Users). In Deutschland kam WhatsApp Anfang 2014 bereits auf 30 Millionen aktive Nutzer und trotz der Übernahme durch Facebook scheint das Wachstum weiterzugehen (WhatsApp hat über 30 Millionen Nutzer in Deutschland, Golem). Im Vergleich dazu liegt Facebook bei 27 Millionen aktiver Nutzer in Deutschland, damit hat sich WhatsApp hierzulande extrem schnell etabliert und kann von den Nutzerzahlen Facebook bereits hinter sich lassen (Aktive Nutzer von Facebook in Deutschland).
Besonders interessant finde ich das Phänomen, dass WhatsApp auch von Personen genutzt wird, die ansonsten dem Web 2.0 oder Social Media eher skeptisch gegenüberstehen. Zumindest konnte ich das in der Familie und im Freundeskreis beobachten, auch in meinen Seminaren findet WhatsApp Anklang bei Personen, die Facebook, Twitter und Co. nur mit spitzen Fingern anfassen würden. Ich habe diese Erfahrung in einem Seminar mit Teilnehmern gemacht, die im Schnitt 45 Jahre oder älter waren. Mein Vortrag über Web 2.0 Dienste und Bloggen stieß auf höfliches Desinteresse, beim Thema WhatsApp kam dann mehr Leben in die Gruppe. Viele nutzten den Dienst um sich mit den Kindern auszutauschen, vor allem wenn die Kinder ausgezogen waren und eine Ausbildung oder ein Studium absolvierten oder im Ausland waren. Genauso erging es mir im Freundeskreis mit Menschen, an denen das Web 2.0 vollkommen vorbeiging, entweder, weil Sie nichts damit anfangen konnten oder aus prinzipiellen Gründen wir Sicherheits- und Datenschutzbedenken keine sozialen Netzwerke nutzen. Im letzten Jahr haben einige begonnen, WhatsApp ziemlich enthusiastisch zu nutzen, inzwischen ist es der einzige Web 2.0-Dienst, der in meiner Familie und Freundeskreis wirklich relevant ist. Wie schafft es WhatsApp für so unterschiedliche Gruppen interessant zu werden?
WhatsApp als Plattform für den privaten Austausch
Der Hauptgrund für die große Verbreitung in Deutschland scheint mir darin zu liegen, dass WhatsApp als Dienst vor allem für den privaten Austausch steht. Da die Kontakte bei WhatsApp automatisch über das Telefonbuch im Smartphone generiert werden, entsteht von sich aus eine Liste mit nahestehenden Kontakten. Damit steht WhatsApp viel stärker für den Austausch im Privaten, mit Freunden und der Familie, wogegen Facebook und noch viel mehr Twitter oder Google+ eher für die Kommunikation in der Öffentlichkeit stehen. Vor allem bei Twitter sind Nachrichten generell für einen öffentlichen Leserkreis gedacht, vermutlich auch deshalb findet der Dienst vor allem bei Politikern und Menschen, die sich in der Öffentlichkeit bewegen, größeren Anklang. Das Design von WhatsApp passt generell eher zu einer deutschen oder europäischen Auffassung von Privatheit als das Design anderer sozialen Netzwerken.
Es ist kein Geheimnis, dass Privatheit in Deutschland oder in Europa einen höheren Stellenwert genießt als in den USA. Privatheit und Öffentlichkeit werden in den USA generell anders gesehen als in Deutschland und Europa. Viele Informationen, die in Deutschland als privat gelten, werden in den USA selbstverständlicher auch öffentlich kommuniziert. Diese andere Auffassung von Privatheit in der Öffentlichkeit ist ein kulturelles Phänomen, das bereits vor dem Aufkommen des Web 2.0 in den USA zu beobachten war. Informationen über die religiöse Orientierung, über das Gehalt, über Krankheiten und persönliche Krisen, aus europäischer Sicht also private Informationen, wurden bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eher in der Öffentlichkeit kommuniziert als in Deutschland oder Europa. Bereits im Jahr 1986 hat Richard Sennet in seinem Buch „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ einer kleine Kulturgeschichte der Privatheit in der Öffentlichkeit geschrieben.
Laut Sennett gibt es bereits Ende des 19. Jahrhunderts in den USA eine stärkere Vermischung von Privatheit und Öffentlichkeit statt und es wird üblicher, persönliche Informationen, die vormals der privaten Sphäre zugeordnet waren, in die Öffentlichkeit zu tragen. Ein gutes Beispiel für diesen kulturellen Unterschied ist die Kommunikation politischer Ansichten in amerikanischen Wahlkämpfen. Für Bewerber um Ämter in den USA spielen die Werte, die Familie und die Religion, aus europäischer Sicht private Bereiche, eine andere Rolle als in Deutschland. Ein amerikanischer Präsidentschaftsbewerber muss sich als guter Familienmensch zeigen, als gläubiger Christ und sich generell als „Kerl von nebenan“ präsentieren, mit dem Sie nach dem Feierabend noch unkompliziert ein Bier trinken könnten. Als Bewerber müssen Sie sich also gezielt als Privatperson inszenieren, aber auch Wähler in den USA kehren ihre privaten Seiten nach außen und machen keinen Hehl aus ihren politischen Überzeugungen.
Als ich im Herbst 2008, kurz bevor Obamas Wahlkampf richtig losging, in Philadelphia und in Michigan war, konnte man in den Vorgärten überall Schilder sehen, auf denen die Bewohner klar für eines der beiden Lager Stellung bezogen. Überall gab es Schilder mit Aufschriften wie „Obama 08“ oder „McCain for President“, die Bewohner kommunizierten also deutlich erkennbar ihre politische Position. Dagegen gelten in Deutschland die Politik und politische Überzeugungen viel eher als privat. Auch wenn es Tendenzen zu einer Amerikanisierung des Wahlkampfes gibt, wäre zumindest eine so offene Zurschaustellung politischer Meinungen, wie bei amerikanischen Wählern, für Deutschland ziemlich ungewöhnlich.
Off record chat w/ Facebook employee. Me: How does Zuck feel about privacy? Response: [laughter] He doesn’t believe in it.
— Nick Bilton (@nickbilton) 28. April 2010
Diese kulturellen Unterschiede prägen auch das Design von sozialen Netzwerken. Auf Facebook gehört zu den Profileinstellungen auch eine Auswahl von politischen und religiösen Überzeugungen und damit bildet der Dienst eine amerikanische Auffassung von Privatheit ab. Natürlich können Sie im eigenen Profil die Felder nicht ausfüllen, aber es ist schon bemerkenswert, dass diese Informationen als Standardeinträge für ein Profil aufgefasst werden. Ähnliches gilt auch für die Verbreitung von Nachrichten, ich kann bei Facebook einstellen, ob die Nachrichten öffentlich sind oder sie nur einer bestimmten Personengruppe zuordnen. Bei Twitter, oder auf Blogs ist die Kommunikation generell eher öffentlich gehalten. Mit dieser Möglichkeit zur öffentlichen Kommunikation, zum öffentlichen Austausch, die ja das Markenzeichen des Web 2.0 ist, spiegelt das Design vieler Web 2.0-Dienste eher eine amerikanische Auffassung von Privatheit und Öffentlichkeit wieder.
Die deutschen Irritationen über die größere Transparenz und Öffentlichkeit in Sozialen Netzwerken können Sie an der Berichterstattung über die sogenannten „Facebook-Pannen“ sehen. Die Medien in Deutschland berichten nach wie vor gerne und ausführlich über private Informationen, die durch Bedienungsfehler versehentlich an die Öffentlichkeit geraten, wie beispielsweise seit einigen Jahren über die Partys, die aus dem Ruder laufen, da die Einladungen versehentlich öffentlich gepostet werden (200 Jugendliche randalieren auf Facebook-Party).
WhatsApp ist im Gegensatz dazu stärker auf die private Kommunikation zugeschnitten. Sie bewegen sich von im Rahmen meiner engen Kontakte und, da die Nachrichten generell nur im engsten Kreis ausgetauscht werden, müssen Sie sich keine Gedanken machen, ob Sie irgendwelche Privatheitseinstellungen bei einer Nachricht richtig eingestellt haben. Sie müssen also nicht befürchten, dass 200 ungebetene und alkoholisierte Gäste ihre Geburtstagsparty besuchen wollen, wenn Sie über WhatsApp einladen und dieser Punkt ist meiner Ansicht nach der wesentliche Aspekt, warum WhatsApp generationenübergeifend funktioniert.
Anders als Soziale Netzwerken liefert WhatsApp einen Austausch zwischen Personen, die sich bereits so gut kennen, dass Sie die Smartphonenummern ausgetauscht haben. Deshalb ist der Dienst für eine Nutzergruppe interessant, die eine einfache intuitive Kommunikation in ihrem Freundeskreis und der Familie schätzen und kein Interesse daran hat, (versehentlich) in der Öffentlichkeit zu stehen.
Die Funktionalität von WhatsApp besticht durch Einfachheit
Sie müssen die App einfach nur installieren und können buchstäblich sofort loslegen, ohne irgendwelche Profilseiten ausfüllen zu müssen. Natürlich können Sie auch ein persönliches Foto hochladen und einen kleinen Text zu ihrer Person schreiben, da WhatsApp aber vor allem für die Kommunikation im engeren Freundeskreis ausgerichtet ist, reicht meistens einfach der Name. Anders als bei Facebook, Twitter oder Google+ müssen Sie auch keine Kontakte zusammenstellen, sondern das geschieht automatisch. Alleine die Einrichtung eines persönlichen Profils in Facebook, Twitter oder Google+ ist schon eine langwierige Angelegenheit und dann dauert es noch zusätzlich viele Stunden, bis Sie mit ihren Kontakten einen interessanten Nachrichtenstream etabliert haben.
Dagegen hat WhatsApp einen großen Pluspunkt bei Menschen, die an Kommunikation teilhaben wollen, aber nicht die Zeit oder die Nerven haben, sich in ein soziales Netzwerk einzudenken oder an Einstellungen herumzufrickeln. Und das trifft natürlich insbesondere den Nerv von Menschen, deren Bereitschaft, viele Stunden für Ihre Selbstdarstellung im Internet zu investieren jenseits der 30 stark abgenommen hat (sofern sie keine Technikfreaks sind oder in irgendeiner Form in der Öffentlichkeit stehen).
WhatsApp liegt also im Trend der Benutzerfreundlichkeit und intuitiven Bedienung. Jeder Dienst, der heute für ein Massenpublikum erfolgreich sein will, muss ohne großen Aufwand zu bedienen sein. WhatsApp ist auch deshalb in Deutschland so erfolgreich, weil es durch eine Benutzerfreundlichkeit besticht, die andere Soziale Netzwerke so nicht bieten.