New Work ‒ Selbstmanagement ‒ Digital Workflow : Beiträge von 2012 bis 2015
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Michael Seemann: Das neue Spiel mit „Do What The Fuck You Want Public Digital License“

Die Zukunft im Jahre 2030: Das Verlagssystem, wie wir es einst kannten, ist zusammengebrochen. Bücher werden nur noch für Liebhaber gedruckt. Die digitalen Rechte auf den Vertrieb von Büchern liegen bei den digitalen Riesen. Ab dem Jahre 2014 nutzten einzelne Autorenunternehmer die damals noch vorhandenen Lücken im Distributionssystem für sich aus und publizierten Inhalte unter solchen kuriosen Lizenzen wie der „Do What The Fuck You Want Public Digital Licence“. Einer von ihnen: Michael Seemann.

Dies ist die Geschichte eines Experiments. Im Jahre 2014 zeichnete sich bereits ab, dass das Verlagssystem, so wie wir es einst kannten, allmählich untergehen würde. Die Digitalisierung schritt auch im Büchermarkt immer weiter voran. Noch war der Markt für elektronische Bücher in Deutschland relativ klein; dies änderte sich aber bis zum Jahre 2030 Schlag auf Schlag – bis zum vollkommenen Strukturwandel.

Die alten Riesen, die das System Buchmarkt bis dato beherrscht hatten, mussten schließlich vor den neuen digitalen Konkurrenten kapitulieren. Der Großteil jener Generationen, die nach der von 1980 nachrückten, lasen keine Bücher mehr. Bücher, das waren spätestens im Jahre 2030 entweder eine elitäre Angelegenheit, eine Liebhabergeschichte, oder eben zumeist eine weitere größere Ablenkungsmöglichkeit auf digitalen Endgeräten wie dem Smartphone.

Zuvor, in jener Übergangsphase, die sich in etwa ab dem Jahre 2014 andeutete, nutzten experimentierfreudige Autoren und Kleinunternehmer einzelne Chancen aus, die sich im noch nicht abgeschlossenen Strukturwandel auftaten. Einer von diesen damaligen Autorenunternehmern: Michael Seemann.

Einer von denen, die das neue Spiel spielen ‒ Michael Seemann: Kulturwissenschaftler und Autorenunternehmer

Seemann war in dieser Übergangsphase als Blogger im Netz recht aktiv und beschäftigte sich vor allem mit der Frage, wie das Leben im Netz wohl zukünftig aussehen könnte, wenn Privatheit kein Thema mehr sein sollte. Er publizierte häufig; auch in einst so hippen Magazinen wie der Spex. 2010 hatte der Begründer von Facebook – Mark Zuckerberg – das Ende der Privatheit verkündet. Seemann verband mit diesem Thema eine strategische Neuausrichtung einzelner Institutionen, politischer Aktivisten und Privatpersonen und bezeichnete diese Strategie als „Das neue Spiel – Nach dem Kontrollverlust“. Wenn das Ziel der Kontrolle totale Überwachung über sämtliche Daten von Menschen und Institutionen ist, dann stellte sich auf der anderen Seite die Frage, wie eigene Spielregeln unter derartigen Bedingungen definiert werden können.

Ein Beispiel für diese eigenen Spielregeln waren neue Konzepte im Umgang mit digitalen Daten; etwa die Frage, wie man ein Buch zum Thema Kontrollverlust in einem Zeitalter vertreibt, in der sich abzeichnete, dass das alte System Buchmarkt seinen Zenit bereits weit überschritten und den Kontakt zur Außenwelt vielfach verloren hatte. Auch dieses System wollte noch den Büchermarkt kontrollieren; allerdings nach den alten Spielregeln. Eigenwillige Texte wurden zu dieser Zeit von größeren Verlagen zumeist nicht mehr veröffentlicht und von ängstlichen Lektoren zerredet. Es dominierte eitles Getue, steifes Herumstehen, Zögern und Zaudern; aber hinter der Oberfläche des alten Systems brodelte es bereits gewaltig; ein heftiger digitaler Tornado bahnte sich zwischen den Zeilen an.

Das alte Spiel des Systems Buchmarkt

Als ich im August 2014 die Gelegenheit ergriff, Michael Seemann zu seinem Buch „Das Neue Spiel. Anleitung für die Welt nach dem Kontrollverlust“ zu interviewen, beschäftigten mich vor allem strategische Fragen. „Strategischer Nutzen ist immer gesteigerter Nutzen. Er verkürzt die Zeit zur Erreichung eines Ziels, minimiert Auwand und Risiko, erhöht die Ausbeute“, so Rainer Zimmermann in „Das Strategiebuch“ (2011: 8). Meine Frage lautete, worin wohl der strategische Nutzen bestehen könnte, wenn man wie Seemann als Autorenunternehmer ein Buch veröffentlichte, dass „Das Neue Spiel – Nach dem Kontrollverlust“ nicht nur auf der Inhaltsebene reflektierte, sondern ebenso auf der Ebene der Konzeption bestritt. Seemann ging sogar soweit, dass er sich für sein Buchprojekt eine eigene Lizenz ausdachte – die „Do What The Fuck You Want Public Digital Licence“, die ihm als Autor einen wesentlich höheren Spielraum in dem Vertrieb und der Verwertung von Rechten zugestand, auch wenn manche Beobachter wie Torsten Kleinz das mehr als PR-Gag wahrnahmen; aber dazu mehr am Ende dieses Beitrags (…)

Wie sah damals der übliche Weg für einen Autoren aus, der nach einem professionellen Verlag für sein erstes Buch suchte? Und welche Verdienstmöglichkeiten und Rechte wurden in so einem Fall in der Regel zugestanden?

Retrospektive: Damals, als noch echte Bücher gelesen wurden (…)

Zu dem alten Spiel des Systems Buchmarkt gehörten einige Regeln für Nachwuchsautoren, die Verdienstmöglichkeiten und Rechte nicht selten auf ein Minimum beschränkten. Schließlich mussten ja auch die Verlage ihre Kosten deckeln, so das Argument, was man als Kaufmann nur allzu gut nachvollziehen kann. Und so gestaltete sich ein Vertrag bei Nachwuchsautoren, wie man in jenen Jahren in solchen Büchern wie dem „Autoren-Handbuch“ von Sylvia Eggers ganz transparent nachlesen konnte (2012), in der Art, dass nach dem Unterschreiben eines Vertrags bei einem Verlag in der Regel nach einer längeren und häufig anstrengenderen Aquisestrecke 7 % bis maximal 10 % vom Nettoladenpreis dem Autoren eines Buches zugebilligt wurden.

Manche Nachwuchsautoren, die etwas mehr Glück besaßen und auch mehr Verhandlungsgeschick bewiesen, bekamen damals indes sogar noch einen Vorschuss auf ihr erstes Buch von 1.000 bis 8.000 Euro und mussten diesen Vorschuss nicht einmal zurückzahlen, auch wenn sich ihr erstes Buch gegen alle Erwartungen dann doch als Flop erweisen sollte. Aber auch sonst konnte man damals als Buchautor, wenn man nicht gerade Dieter Bohlen oder so ein Superstar wie Paulo Coelho war, eigentlich nur relativ wenig Geld mit dem reinen Schreiben von Büchern verdienen. Brotlose Kunst.

„Das beste Geheimnis ist eine offene Tür“

Michael Seemann spielte mit seinem ersten Buch „Das Neue Spiel. Anleitung für die Welt nach dem Kontrollverlust“ ein anderes Spiel. Auf https://www.startnext.de/ctrlverlust warb er zunächst für die Inhalte seines Buches in der Form eines Videos. „Ich möchte ein Buch schreiben über die Zeit nach Snowden“.

Im Jahre 2010 war in den öffentliche Gazetten viel von Vertrauensbruch und Missbrauch zu lesen – bedingt durch die Enthüllungen von Edward Snowden; „ein Mann der so viele geheime Informationen besaß, um der US-Regierung mehr Schaden zuzufügen, als es jede andere Person in der Geschichte der USA jemals getan hatte“, wie der Guardian-Journalist Glenn Greenwald, der mit Snowden in engem Kontakt stand, in einem Interview durchblicken ließ. Und Snowden hatte schon bis dato so einige wirklich delikate Geheiminformationen enthüllt. Selbst die Privatgespräche von Angela Merkel wurden von unseren guten amerikanischen Freunden ganz dreist belauscht. Und diese Meldung erregte natürlich die Gemüter. Auf der anderen Seite war das aber auch so ein künstlich hochgepeitschter öffentlicher Erregungszutand in der Sache mit der Kanzlerin und deren Belauschung. Denn jeder Depp dürfte eigentlich schon damals gewusst haben, dass wir seit geraumer Zeit von Geheimdiensten überwacht werden können, wobei die Daten von einzelnen privaten Personen wenn sie um das Jahr 2014 nicht gerade Merkel, Snowden oder Assange hießen, für Geheimdienste vollkommen uninteressant waren. Der Unterschied zu früher bestand indes darin, so wie Seemann sagte, dass die Überwachungstechniken einfach andere waren.

„Natürlich haben die Geheimdienste immer schon das selbe gemacht: sie haben Informationen gesammelt – auch gegen den Willen der Betroffenen. Aber es ist nun mal ein Unterschied, ob ich ein Tonbandgerät an ein Telefonkabel anschließe, oder ein Rechenzentrum an ein Glasfaserkabel. Im ersten Fall kann ich zwei Personen abhören, im zweiten Fall tatsächlich Milliarden von Menschen.“

Das Thema Überwachung war im Jahre 2014 dementsprechend nach der Enthüllung von Snowden allgegenwärtig. Und es stellte sich die Frage, wie man sich als einzelne Person oder Institution verhält, wenn die Kontrolle über die eigenen Daten in einer totalvernetzten Welt immer weiter abhanden kommt. Seemann betrachtete das so: „Wenn man post-privat lebt, gibt es kein exklusives Wissen über mich, das gegen mich verwendet werden kann, um mich z. B. zu erpressen. Überwachung verliert seine Angriffsfläche.“ Seemann ging dabei vielleicht manchmal auch etwas weit, was das selbstauferlegte Gebot der Transparenz anbelangte; so machte er beispielsweise seine eigene Steuererklärung jährlich über Twitter öffentlich publik. Damals dachte ich mir: Wen interessiert das eigentlich? Ist das nicht alles einfach nur überzogen? Diese komischen digitalen Wichtigtuer (…) Aber dahinter verbarg sich ja tatsächlich eine echte Einsicht, die sich ganz einfach in dem Sprichwort „Das beste Geheimnis ist eine offene Tür“ ausdrückt.

Die Auflösung der Strategie von Seemann

Wenn ich mein erstes Buch in einem Verlag veröffentlichen will und dann erfahre, dass ich im besten Fall nur 10 % vom Nettoladenpreis zugebilligt bekomme, und ich auch ansonsten, wenn ein Buch relativ gut läuft, an Zweitverwertungsrechten wie Hörbuch und Filmumsetzung so gut wie gar nicht beteiligt werde, klingelt es vielleicht bei mir als etwas gigantomanisch veranlagter Autor im Kopf. Der Unternehmer in mir wird nämlich plötzlich aus dem Tiefschlaf befreit. Jedenfalls war das damals mein erster Gedanke, als ich auf das Buch von Seemann aufmerksam wurde, welches in der Printausgabe im Oktober 2014 über den feinen Indie-Verlag Orange Press erschien: „Das neue Spiel. Anleitung für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust“.

Nach dem Definitionsversuch von Zimmermann, was eine Strategie ausmacht, lag der Vorteil von Seemann in seiner Art von Spiel in folgenden Punkten:

  • Zunächst startete Seeemann über ein Video (das oben angefügte Video) eine Crowdfundingaktion. „Die Idee zur Crowdfundingaktion war folgende: Ich nehme das Geld für das Schreiben im Vorhinein ein und bin somit unabhängig von der Buchbranche und evtl. gezahlten Vorschüssen.“
  • Insgesamt sammelte er über seine Crowdfunding-Aktion 20.467 Euro ein. Wie man auf der Seite https://www.startnext.de/ctrlverlust erfuhr, bestand diese Summe aus einzelnen Teilbeträgen. Als Lockmittel setzte Seemann solche Anreize wie „Dankesmail mit eBook“ für 5 Euro oder „Vortrag/Diskussion/Treffen“ für 500 Euro. Auf diese Weise kamen schließlich 20.467 Euro zusammen.
  • Am Ende war diese Art von Kampagne das dritterfolgreichste Buchprojekt im Bereich Crowdfunding. Knapp vor Seemann lag mit 84 Euro Vorsprung Drachenväter.
  • Aufschlussreich war an der Strategie von Seemann außerdem noch das Vergeben von exklusiven Printrechten. Alle anderen Rechte lagen bei ihm selber, einschließlich weiteren Verwertungen wie die Umsetzung als Audio-Book usw.
  • Für besondere Rechte erfand er zudem eine eigene Lizenz. Die „Do What The Fuck You Want Public Digital Licence“. Diese Lizenz entwickelte Seemann zusammen mit iRights. Das Entscheidende an dieser Lizenz war, dass alles im digitalen Bereich mit einem veröffentlichten Werk wie dem Buch von Seemann erlaubt war, während im physischen Bereich eine andere Lizenz greifte. Im Falle von Seemann nämlich das normale Urheberrecht.
  • Die ganze Crowdfunding-Aktion und weitere Veröffentlichungen zu einzelnen Inhalten seines Buches in Magazinen und auf anderen Online-Plattformen haben zudem die Ressource Aufmerksamkeit ziemlich stark auf sein Buchprojekt gelenkt.
  • Am Ende interessierte sich dann tatsächlich auch ein kleiner feiner Verlag für die Print-Rechte an seinem Buch: und zwar Orange Press.

In dieser Übergangsphase gehörte Seemann somit zu jenen Autorenunternehmern, die bestehende Lücken im System für sich auf clevere Weise nutzten, um neue Lizensierungsmodelle nach dem Kontrollverlust zu erproben. Dabei verfolgte er analog zu den Inhalten seines Buches eine Doppelstrategie: Print-Ausgabe nach den Regeln des alten Systems, den Rest im Sinne des damals relativ neuen digitalen Spiels. Entscheidend war außerdem, dass Seemann in seiner Spielweise nicht von dem alten System ausging, sondern umgekehrt von den Möglichkeiten im digitalen Raum. In gewisser Weise stellte er so die alten Spielregeln auf den Kopf und verschaffte sich sowohl in finanzieller als auch rechtlichlicher Hinsicht einen beachtlichen Spielvorteil.

Anders formuliert: Hätte Seemann damals sein Buch „Das Neue Spiel. Anleitung für die Welt nach dem Kontrollverlust“ gänzlich nach den alten Spielregeln veröffentlicht, so hätte er im schlimmsten Fall erst einmal eins bis zwei Jahre warten müssen, bis das Buch überhaupt irgendwo erscheint, hätte außerdem vielleicht 7 % vom Nettoladenpreis bekommen und bei den Zweitverwertungsrechten wie Audiobook und T-Shirt nicht gerade üppig davon profitiert. Mit seinem „Do What The Fuck You Want“ wurde dieser Weg deutlich verkürzt, mit einem geringeren Aufwand und einem wesentlich höheren Profit. Er musste erst gar nicht lange warten, bis das Buch in irgend einem professionellen Verlag erscheint, konnte sich die ganze mühselige Akquise im Vorfeld sparen und mehr Zeit auf die eigene Kampagne und PR verwenden. Zudem hatte er das Geld für sein Buch durch Crowdfunding schon eingespielt, bevor es in irgend einer Weise um den möglichen späteren Druck ging. Und dann kamen noch die digitalen Rechte dazu: der Verkauf auf anderen Online-Plattformen als E-Book, die Zweitverwertung als Podcast-Format. Die Rechte darauf lagen allein bei ihm; auf der anderen Seite musste er als Autorenunternehmer klären, wie weitere Produkte finanziert werden können. Lediglich die Print-Version seines Buches lief ganz klassisch über einen Buchverlag mit Print-Lizenz: Sie lag bei Orange Press.

Das Buch „Das neue Spiel. Anleitung für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust“ von Michael Seemann erscheint nach den alten Spielregeln im Oktober 2014 bei Orange Press: Hier der Link.

Weiterführende Literatur:

  • Eggers, S. (2012): Autoren-Handbuch: So finden Sie einen Verlag für Ihr Manuskript. Berlin: Autorenhaus.
  • Zimmermann, R. (2011): Das Strategiebuch. Frankfurt: Campus.

1 Kommentare

  1. Hans Stier sagt

    Ihr Name ist bei mir im Studium zum Kultur und Medienpädagoge gefallen im Zusammenhang mit den Phasen der Digitalisierung. Auf das Buch bin ich sehr gespannt, aber könnten Sie mir eventuell den letzten Punkt also „Phase fünf – Restrukturierungen„ etwas genauer ausführen? Ich hab das auch nicht so ganz verstanden.
    Was genau war damit gemeint, wie waren die Gedankengänge diesbezüglich.

    Besten Dank

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