Valentin Groebner sorgte mit einem Artikel in der FAZ für einiges Aufsehen. Der in Luzern lehrende Historiker beschreibt darin, welche Möglichkeiten das Web 2.0, speziell Bloggen für das wissenschaftliche Publizieren haben und spart dabei nicht an polemischen Seitenhieben auf das Internet. Das Internet wird bei Groebner zu einer „mystischen Fabel“, in der Erlösungsphantasien gesponnen werden, zu „warmen Hippie-Kitsch“, der nur neue Ausbeutung produziert anstatt Hierarchien aufzuheben.
Die Beobachtungen Groebners sind differenzierter, als es die polemischen Einlassungen vermuten lassen, der Artikel ist inzwischen in voller Länge auf den Seiten der FAZ zugänglich (Valentin Groebner: Muss ich das lesen?). Als Historiker beginnt Groebner damit, Schreiben und Publizieren im Web 2.0 einzuordnen und zu kontextualisieren. Viele Entwicklungen des Internets haben in einem historischen Blick Vorläufer, und viele angeblich neuen Phänomene sind recht alt. Sowohl die Klagen über die wissenschaftliche Veröffentlichungsflut sind ein alter Hut, sie erklingen bereits seit dem 19. Jahrhundert, und auch das kollaborative Vorgehen im Web 2.0 stellt sich als tradierte Kulturtechnik dar. Die Wissenschaft baut seit ihrer Entstehung in der Renaissance darauf, dass geschriebene Texte innerhalb einer Community diskutiert und kommentiert werden:
„Mitglieder eines losen Netzwerks, die gleichzeitig Leser und Autoren sind, nennt man heute „Prosumer“, zusammengesetzt aus producer und consumer. Klingt wie ein brandneues Web-2.0-Phänomen, ist aber seit ziemlich langer Zeit die Organisationsform von Wissenschaft, je nach Standpunkt und Disziplin seit drei- oder fünfhundert Jahren.“
Digitales Rauschen
„Das Netz hat den Zwang zur Selbstdarstellung innerhalb der Wissenschaft unübersehbar gemacht und dramatisch beschleunigt. Es ist nicht nur unendlicher Informationsreichtum plus narzisstischem Geschwätz, sondern auch ein Paradebeispiel für das, was Gilles Deleuze die Kontrollgesellschaft genannt hat: „Man wird nie mit irgendetwas fertig.“ Wer seine Netzpräsenz ernst nimmt, ist zu beständiger Produktion und Erneuerung gezwungen – unaufhörliche unbezahlte Arbeit, nur um an einem Ort auffindbar und präsent bleiben zu können. Nirgendwo verschwindet man so schnell und so gründlich wie im Netz.“
Neben den persönlichen Anpassungsdruck und der vielen unbezahlten Arbeit, die mit dem Internet verbunden ist, droht laut Groebner auch noch durch wirtschaftliche Konzentrationsprozesse eine neue Art von zentralisierter Informationsinfrastruktur. Für das (wissenschaftliche) Schreiben und Lesen bedeutet das neue Medium vor allem die Verdichtung von bestehenden Informationen. In einem schönen Zitat bezeichnet Groebner das Schreiben als den „praktischen Umgang mit der Zeit anderer Leute.“ Die Auswahl, Zusammenstellung und Verdichtung, die ich als Autor leiste, dient dem Leser, heute noch mehr als früher. Die Zeit, die ich als Autor in einen Text investiere, ermöglicht es meinen Lesern schneller und einfacher komplexe Informationen erfassen zu können.
Für das wisenschaftliche Publizieren ist aber laut Groebner nur die klassische Papierpublikation sinnvoll, das Internet eigne sich laut Groebner nur für Fragmentarisches (und Visionäres). Deswegen besteht für ihn als Wissenschaftler der Sinn des Internets vor allem darin, netzunabhängige Inhalte zu schaffen:
„Das Netz ist kein haltbarer Informationsspeicher, und es hat keine effizienten Filtermechanismen entwickelt. De facto funktioniert es in Arbeitsteilung mit langsameren, aber haltbareren analogen Speichermedien. Deswegen geht es heute wohl darum, mit Hilfe des Netzes netzunabhängige Inhalte zu schaffen. Und Netzunabhängigkeit ist das Kriterium für nachhaltige Wissenschaft, nicht nur wegen der Netzmonopolisten und der Strompreise.“
Publikationsmaschine oder Netzwerk?
Groebner formuliert griffig, und hat damit seine Analyse bereits verinnerlicht, es geht beim Publizieren auch darum, Aufmerksamkeit zu erlangen und die hat er mit seinen Thesen sicher erhalten. Einige Punkte seiner Beobachtungen haben auch zum Teil ihre Richtigkeit, das Netz verstärkt sicher den Trend zur Überproduktion (auch wenn das bereits Zeitgenossen aus dem 19. Jahrhundert bemerkten). Wir leben heute in einer Zeit mit extrem vielen frei zugänglichen Informationen und publizierten Meinungen, und wir haben noch keinen überzeugenden Umgang mit dieser Situation gefunden. Die Bemühungen um neue Bezahlmodelle für Inhalte oder neu entstehenden Berufe wie Social-Media-Manager zeigen ja gerade, wie wir gesellschaftlich einen Umgang mit der neuen Informationskultur suchen. Ärgerlich an Groebners Artikel ist die starke Verzeichnung des Internets als ein Publikationsmedium, das einfach nur noch mehr Output und Lärm produziert.
Bei dieser Betrachtungsweise bleiben die Publikationsmöglichkeiten, die das Web 2.0 bietet auf der Strecke, beispielsweise die Plattform de.hypotheses.org, ein Publikationsmedium für Geistes- und Kulturwissenschaftlern. Diese Möglichkeiten bieten auch ein Potential, da der normale Weg zur Publikation auf Papier sehr lange ist und gerade für Nachwuchswissenschaftler sehr beschwerlich.
Auch ist die Analyse des Internets als eine flüchtige und laute Kommunikationsform nicht zutreffend. Der Blogger und Historiker M. Schmalenstroer nennt in seinem Artikel „Ja, du sollst lesen„, einige Punkte, die gegen Valentin Groebners Analyse des Internets sprechen. Publikationen sind beispielsweise auch im Internet möglich, auch stabile Publikationen, die Universitätsbibliotheken ermöglichen beispielsweise inzwischen die Onlinepublikation für Dissertationen. Auch stimme die Analyse Grobners nicht, dass alle älteren Beiträge einfach im digitalen Rauschen untergingen. Gerade als Blogger kann man erleben, dass nach wie vor auf die älteren Artikel zugegriffen wird.
Meiner Ansicht nach unterschlägt Groebner vor allem das Vernetzungspotential des Web 2.0 und die Möglichkeit, über die Fächergrenzen hinaus Wissen auszutauschen. Als Lehrbeauftragter u.a. für Wirtschaftsethik schätze ich es sehr, über Soziale Netzwerke und Blogs mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen Kontakte herstellen zu können. Dieser Punkt ist meiner Erfahrung nach die große Möglichkeit, das Web 2.0 zu nutzen. Diese Form des Austauschs besteht vielfach schlicht nicht in den bestehenden Wissenschaftskulturen mit ihren institutionalisierten Abwehrreflexen. Mit „Hippie-Kitsch“ hat das nicht zu tun, sondern eher damit, dass Informationen heute beweglicher sind, sich leichter austauschen lassen – und gerade das ist für eine wissenschaftliche Diskussionskultur wichtig.
Text: Michael Lindner
Der Vortrag von Prof. Groebner von der RKB-Tagung, auf dem der FAZ-Artikel fußt, ist jetzt online unter http://rkb.hypotheses.org/452