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Essay von Byung-Chul Han klärt auf: Warum wird die Entscheidung für Parteien zur Herkulesaufgabe?

“Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns” von Byung-Chul Han – Berlin: Matthes & Seitz, 2013 – 44 Seiten – ISBN: 978-3882210668 – 5,00 €

Haben Sie sich auch im Vorfeld zur diesjährigen Wahl zum Deutschen Bundestag mehrfach gefragt, welche Partei Sie überhaupt wählen sollen? Keine Sorge. Sie sind mit Ihrem Problem nicht allein. Denn es wird zunehmend schwieriger, die richtige Wahl zu treffen. Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han führt in seinem neuen Essay „Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns“ einige bemerkenswerte Gedanken zur Krise der Demokratie an. Nach der Lektüre seines Essays verstehen Sie definitiv auch besser, warum die Entscheidung für eine bestimmte Partei immer mehr zur Herkulesaufgabe wird.

Der neue Essay von Byung-Chul Han „Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns“ wirft einige bemerkenswerte Gedanken zu der Frage auf, warum es im Jahre 2013 beinahe eine Unmöglichkeit darstellt, die richtige Wahl für eine Partei zu treffen. CDU? SPD? FDP? Die Grünen? Die Linken? Oder gar die Piraten? Christlich? Demokratisch? Liberal? Links? Rechts? Progressiv? Alles irgendwie Schnee von gestern, aber was dann?

Der Zerfall des öffentlichen Raumes

Schon zu Beginn seines Essays spricht Han ein zentrales Problem an, was die Wahl für eine bestimmte Partei oder ein bestimmtes Programm, eine Ideologie, anbelangt.

„Der Zerfall des öffentlichen Raumes wird heute allgemein als Krise der Demokratie interpretiert“ (S. 11).

Wir haben es also nicht mehr mit bestimmten Diskursen, bestimmten Themenschwerpunkten zu tun, auf die sich die allgemeine Öffentlichkeit in den Medien verständigt und darüber diskutiert, sondern mit Zersplitterung, mit der Atomatisierung der Öffentlichkeit in immer kleinere Interessengruppen und Nischen. Folglich gelten auch nicht mehr die Grundregeln des kommunikativen Handelns, so wie es Jürgen Habermas einst in seiner berühmten Theorie postuliert hat.

„Der heutige Digital Turn stellt Habermas´ Theorie des kommunikativen Handelns radikal in Frage“, so Han. „Auf Blogs und in den sozialen Medien, die heute den öffentlichen Raum bilden oder ersetzen, findet kein Diskurs statt. Sie bilden keine Öffentlichkeit. Die digitalen Medien sorgen dafür, dass die Gesellschaft immer ärmer an Diskurs wird“ (S. 16).

Warum wir es mit Parteien zu tun haben, die keine Parteien mehr sind

Was sich außerdem grundlegend verändert hat, ist die Prozesslogik der Kommunikation in der Politik. Keine andere Partei hat das bis dato so gut verstanden wie die Piraten-Partei, die eigentlich keine Partei mehr im traditionellen Sinne ist. Warum?

Diese Partei hat nach außen immer wieder demonstriert ‒ unter Berufung auf das Gebot der Transparenz ‒ sämtliche Prozesse sichtbar zu machen ‒ dazu gehört auch vor lauter Transparenz die Tatsache, dass man eigentlich überhaupt nicht mehr so richtig einschätzen kann, wofür die Piraten eigentlich stehen.

Aber genau dieser Zug rührt an unserem traditionellen Politikverständnis: Denn auch alle anderen etablierten Parteien sind in ihren Programmen schon längst nicht mehr klar zuordbar, was beispielsweise Wertevorstellungen und Philosophien anbelangt. Wir haben es also mit Parteien zu tun, die keine Parteien mehr im klassischen Sinne sind.

Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Piraten erst gar nicht weiter versuchen, dass klassische Politikprogramm in der absoluten Entfremdung noch weiter künstlich am Leben zu halten. Denken Sie vor diesem Hintergrund beispielsweise nur an die Kehrtwende in der Politik von Angela Merkel nach Fukushima. Absurd oder? Beispiele dieser Art lassen sich mittlerweile endlos fortführen: Kein Mensch regt sich heutzutage mehr über 180-Grad-Kehrtwenden à la Merkel auf.

Wahlplakat der SPD zur politischen Kehrtwende von Angela Merkel nach Fukushima

In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dieser Entwicklung ein ganz anderes Problem: Nämlich die allmähliche Auflösung der Demokratie, wie wir sie einst gekannt haben. Die Frage stellt sich nur, was zukünftig daraus folgt. Von dem digitalen Raum geht hier durchaus eine Chance aus, was die Zukunft der Demokratie anbelangt: das politische System, so wie wir es heute noch erleben, wird dann allerdings nicht mehr existieren. Hoffnung oder Finsternis.

Einigung kommt nicht mehr zustande durch Konsens, durch die Gebote des kommunikativen Handelns, sondern durch die digitale Rationalität, so Han in seinem Essay. Aber auch die Piraten-Partei, die diese Form von Rationalität am ehesten durchdrungen hat, kann im derzeitigen Übergang zu einer anderen politischen Logik, zu einer anderen Form von Demokratie, an sich nicht mehr weiter existieren. Denn noch zählt das endlose Abspulen von längst erstarrten Praktiken und Regelmechanismen im politischen Tagesgeschäft.

„Das Programm der Piraten wird sich paradoxerweise nur ohne Partei realisieren können. Ihre Politik gelingt, wenn sie mit Algorithmen verschmilzt, d. h. wenn sie keine Parteienpolitik im konventionellen Sinne mehr ist. Sonst geht die Piratenpartei an ihrem inneren Widerspruch zugrunde, dass eine Nicht-Partei als Partei agiert“ (S. 31).

Was bedeutet digitale Rationalität?

Die digitale Rationalität ‒ so Han ‒ umfasst nicht nur Argumente oder Diskurse: In ihr sind sämtliche Äußerungsformen enthalten ‒ und zwar in der Form von Big Data. Kommentare, Beiträge auf Blogs, Videos, Tweets auf Twitter, Posts auf Facebook etc. etc. etc. Demzufolge bahnt sich im Internet ein Übergang von „der öffentlichen Versammlung zur privaten Ansammlung von Mengen“ (S. 33) an.

Eine solche „private Ansammlung von Mengen“ kennen Sie beispielsweise von Empfehlungen, die Ihnen in Amazon unterbreitet werden. Sie bekommen auf Amazon Vorschläge von einem Algorithmus gemacht, der Ihren subjektiven Geschmack anhand von weiteren Empfehlungen quasi vorausschauend wie ein Orakel so exakt wie möglich zu berechnen versucht. Diese Ansammlung von Empfehlungen entspricht ebenso dem Prinzip der digitalen Rationalität. Warum? Weil es in dieser Sphäre nur noch darum geht, aus einer Masse an Daten Handlungsvorschriften und Empfehlungen abzuleiten; die Algorithmen bilden dabei die Grundlage.

Wenn Sie dieses Prinzip auf die Wahl für eine bestimmte Partei beziehen, verändert sich auch das Grundverständnis für Entscheidungen in diesem Bereich grundlegend. Denn die Grenze zwischen einzelnen Positionen von Parteien spielt an sich keine Rolle mehr: Das ist das Prinzip der digitalen Rationalität.

Es wird eher danach gewählt, welche Handlungsmöglichkeiten und -vorschriften mit der Wahl für eine bestimmte Partei verknüpft sind. Aus einer Masse an Daten lassen sich solche Wahrscheinlichkeiten mit Algorithmen wesentlich genauer berechnen: Stellen Sie sich die Zukunft in vier Jahren vor, nachdem Sie heute bei der Bundestagswahl beispielsweise die CDU mit Ihrer Zweitstimme gewählt haben. Und jetzt stellen Sie sich alle Daten vor, die mit dieser Wahl verknüpft sind. Wie wahrscheinlich ist beispielsweise die Energiewende mit der CDU? Und was wäre passiert, wenn Sie nicht die CDU gewählt hätten?

Ob sich aus dieser Bewegung der Atome und zersplitterten Einzelinteressen zukünftig noch so etwas wie eine neue Form von Demokratie oder eine Liquid Democracy ableiten lässt  ‒ im Sinne des Politikverständnisses der Piraten ‒, ist eine Frage, die wir zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht beantworten können.

Fazit

Die digitale Rationalität des Internets steht für einen neuen Raum von Öffentlichkeit, der anders funktioniert als wir es kennen ‒ insbesondere was unser Grundverständnis für die Bildung von Öffentlichkeit und Demokratie in der Politik anbelangt.

Ich bin daher sehr gespannt, wie sich das Politikverständnis zukünftig verändern wird und wie sich die Rahmenbedingungen daran anpassen werden ‒ gerade auch im Zusammenhang zum digitalen Raum.

Text: Marcus Klug

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