New Work ‒ Selbstmanagement ‒ Digital Workflow : Beiträge von 2012 bis 2015
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Transparenz zwischen Kontrolle und Emanzipation

Wir leben heute in einer Gesellschaft, die Transparenz einen hohen Stellenwert einräumt. Die Politik soll transparenter werden, aus aktuellem Anlass die Lebensmittelindustrie und unsere Verwaltungen sollen ihre Daten der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Alle größeren Organisationen müssen sich heute Einmischungen der Öffentlichkeit gefallen lassen und diese Entwicklung zu mehr Transparenz trifft generell auf viel Zuspruch. Dabei wird häufig übersehen, dass Transparenz eine sehr ambivalente Kategorie ist und sowohl emanzipatorische als auch normierende und kontrollierende Auswirkungen haben kann.

Im Vergleich zu früheren Zeiten leben wir in einer historischen Phase mit einer unglaublichen Informationsvielfalt und offenen Zugang zu verschiedensten Informationsquellen. Die Politik, Wirtschaft und Verwaltung scheinen vor einem neuen Paradigma zu stehen, dem Ruf nach mehr Transparenz kann sich heute fast niemand mehr entziehen ohne die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen. Der wichtigste Antrieb für die Transparenzgesellschaft ist sicherlich die Informationstechnik.

Postkartenaktion der Piratenpartei zur Transparenz

Ohne leistungsfähige und mobile Computer und ohne das Internet wären Projekte wie Gov Data, Wikileaks oder eine Initiative wie Transparency International so nicht möglich.

Transparenz und Überwachung

Transparenz hat aber noch eine weitere Seite, die seltener beachtet wird. In der europäischen Geschichte oszilliert Transparenz und Offenheit zwischen Emanzipation und Kontrolle, zwischen mehr demokratischer Mitwirkung und Überwachung durch den Staat. Je nach Kontext scheint Transparenz eher disziplinierend zu wirken oder eine befreiende, antiautoritäre Wirkung zu entfalten. Dieses Schwanken hält bis heute an und zeigt sich auch in den aktuellen Diskursen zu Transparenz.

Das bekannteste historische Beispiel für die Ambivalenz im Transparenzbegriff ist das Panopticon von Jeremy Bentham in der Interpretation Michel Foucaults. In Überwachen und Strafen beschreibt Foucault das Panopticon als die perfektionierte Überwachungs-architektur. Es handelt sich dabei um ein Gefängnis, das auf eine Idee von Jeremy Bentham zurückgeht. In diesen Gefängnis sind die Zellen um einen zentralen Turm herum organisiert, von dem aus die Wächter die Gefangenen ungehindert überwachen können.

Presidio Modelo, eine nach dem Vorbild des Panopticons entworfene Strafanstalt auf der kubanischen Insel Isla de la Juventud.

Die Insassen des Gefängnisses befinden sich in Einzelzellen in einem Ringgebäude um den Turm herum und können jederzeit von innen beobachtet werden. Jede Zelle hat ein Fenster zum Turm und eines nach außen, dadurch haben die Wächter Einblick von innen und durch das Außenfenster gelangt Licht in die Einzelzellen. Die Gefangenen sind so also einer Überwachung vollkommen ausgeliefert, ein weiterer Mechanismus verhindert jede Möglichkeit, sich dem überwachenden Blick zu entziehen. Der innere Turm ist von den Zellen aus nicht einsehbar, Sichtblenden am Turm erlauben es den Gefangenen nicht feststellen, ob sie gerade beobachtet werden oder nicht. Sie müssen also jederzeit damit rechnen, überwacht zu werden, das Panopticon schafft so vollkommene Transparenz und Kontrolle der Gefangenen.

Foucault beschreibt das Panopticon als Bild für eine perfektionierte Überwachungs-architektur, deren Prinzipien in verschiedenen Organisationen, vom Militär bis zu Schulen Anwendung finden. Transparenz ist im Panopticon einseitig und ermöglicht Kontrolle und Disziplinierung. Diese Gefängnisarchitektur ist auch tatsächlich in einigen Reformgefängnissen umgesetzt worden, wie im Presidio Modelo (siehe Bild).

Weniger bekannt als die Foucault’sche Interpretation des Panopticons ist die ursprüngliche Konzeption von Jeremy Bentham. Die Idee des ringförmigen Gefängnisses hatte anfänglich ganz humane Absichten, in Benthams Version des Panopticon dient Transparenz einem positiven Zweck. Die Unterbringung in einer Einzelzelle bedeutete im 18. Jahrhundert eine Humanisierung der Haft, üblich war zu Benthams Zeiten die Kerkerhaft. Auch die permanente Beobachtung hatte ursprünglich einen humanen Zweck, sie diente vor allem zur Disziplinierung der Wärter und dem Schutz der Gefangenen; diese sollten ihre Strafe ohne Misshandlungen durch andere Häftlinge oder das Gefängnispersonal absitzen können. Vollkommene Transparenz ist also auch ein Mittel gegen Willkür und für mehr Menschlichkeit im Strafvollzug (vgl. Bozovic, Miran (Hrsg.) (1995): Jeremy Bentham: The Panopticon Writings. London, Brief VI, VIII).

Plagiate, Twitter und der gläserne Konsument

Und ähnlich ambivalent sehen wir Transparenz auch heute noch, je nach Kontext schwanken unsere Bewertungen von Transparenz. Sie ist dann erwünscht, wenn Plagiate enttarnt und Politiker kontrolliert werden oder wenn sie als Mittel gegen Korruption eingesetzt wird. Genauso wünschen sich heute viele Menschen größere Transparenz in der Wirtschaft, Transparenz scheint in diesen Fällen ein wichtiges Korrektiv zu sein, eine  Möglichkeit, Macht oder Wahrheitsansprüche zu kontrollieren. Und das funktioniert (zum Teil) auch, mit Informationstechnik lässt sich heute sehr viel mehr Transparenz und Kontrolle erreichen als vor einigen Jahrzehnten. Das Plagiat von zu Guttenberg wurde beispielsweise mit Hilfe eines Wikis, also durch ein Kollektiv aufgedeckt, die sich die Mühe machten, die Dissertation Stück für Stück auf Plagiate zu durchforsten. Ohne Informationstechnik wäre das nur sehr schwierig umsetzbar gewesen. Ähnlich verhält es sich mit Transparency International und der Fall Brüderle hat für Deutschland gezeigt, welche Möglichkeiten es durch Twitter für politische Debatten gibt.

Quelle: http://wipology.blogspot.de/2010/05/du-wunderst-dich-warum-fremde-menschen.html

Und wo sind die „dunklen Seiten“ der Transparenz heute? Weniger angenehm ist vielen Menschen, wenn die Transparenz sie selbst betrifft. Heute ist der gläserne Konsument die negative Seite der Transparenz, also die vollständige Erfassung von uns in unserem Einkaufsverhalten. Eine andere negative Seite scheint eine gewisse Überforderung durch die gesellschaftlichen Forderung nach mehr Transparenz zu sein. Um uns der Kommunikation in sozialen Medien anzupassen, müssen wir transparenter werden,  damit auch entsprechend kommunizieren und es droht die Überforderung. Die gesellschaftliche Forderung nach mehr Transparenz hat also auch heute noch das Potential zu einem Instrument der Kontrolle und Herrschaftsausübung zu werden, typisch für unsere Zeit, zur Kontrolle von uns als Konsumenten. Interessanterweise spielt auch hier der Machtaspekt eine Rolle. Transparenz droht dann ein Instrument von Kontrolle zu werden, wenn sie ohne Einschränkungen von Unternehmen oder Staaten durchgesetzt werden kann.

Welche Folgerungen ergeben sich aus diesen Beobachtungen?  Wir müssen anscheinend als Gesellschaft lernen, mit Transparenz durch Informationstechnik neu umzugehen, die inzwischen alle Lebensbereiche betrifft. Wie können dieser Lernprozess aussehen? Und wie lässt sich Transparenz so gestalten, dass sie soweit wie möglich der Gesellschaft und den Einzelnen zu Gute kommt?

Text: Michael Lindner

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