New Work ‒ Selbstmanagement ‒ Digital Workflow : Beiträge von 2012 bis 2015
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Die Logik des Misslingens: Den Blick für Zusammenhänge schärfen_Teil 2

Welche Erkentnisse existieren in der modernen Psychologie zu der Frage, wie wir im Internet mit komplexeren Zusammenhängen umgehen? Macht das Internet uns schlauer oder ist unser Intellekt mit der dort verfügbaren Vielzahl an Informationen und Vernetzungsmöglichkeiten hemmungslos überfordert?

Ende der 1990er Jahre führte der Psychologe Dietrich Dörner ein spannendes Experiment durch: das Lohhausen-Experiment. Dörner ging es in diesem Experiment um die Frage, wie Menschen in komplexeren Situationen Entscheidungen treffen, also in solchen Situationen, in denen verschiedene Einflussgrößen in vernetzter Form aufeinander einwirken.

Ich habe das Experiment von Dörner bereits in meinem letzten Beitrag zu dieser Serie ausführlicher beschrieben. Daher sei an dieser Stelle nur soviel gesagt: Stellen Sie sich vor, sie wären zum Bürgermeister einer Kleinstadt wie Lohhausen ernannt worden und hätten ab sofort über einen Zeitraum von 10 Jahren die Möglichkeit, durch Ihre Entscheidungen einen wesentlichen Beitrag zu der Entwicklung von Lohhausen beizusteuern.

In dem Experiment von Dörner ging es um die Frage, wie Menschen mit Entscheidungsprozessen zurecht kommen, die auf multikausalen Zusammenhängen basieren. Solche Zusammenhänge sind dann gegeben, wenn eine bestimmte Entscheidung nicht nur einen Einfluss auf eine bestimmte Variable ausübt, sondern auf mehrere Variablen zugleich.

In meinem letzten Beitrag habe ich dafür folgendes Beispiel ausgewählt: Wenn Sie mehr Steuern als Bürgermeister Ihrer Stadt einnehmen wollen, sollten Sie bei dieser Entscheidung auch bedenken, dass sich die Erhöhung der Steuern nicht nur im positiven Sinne auf das Kapital auswirkt, sondern zugleich auch auf die Unzufriedenheit einiger Bewohner Ihrer Stadt. Denn wenn diese Bewohner zukünftig mehr Steuern bezahlen müssen und diese Entwicklung weiter fortschreitet, müssen Sie ebenso damit rechnen, dass einige Bewohner Ihrer Stadt ausziehen werden.

Die „guten“ Versuchspersonen, wie Dörner später in seinem Experiment herausfand, ließen sich nur sehr selten in ihren Entscheidungen von Nebensächlichkeiten irritieren und erkannten schon frühzeitig, welche Einflussfaktoren für die positive Entwicklung der fiktiven Stadt Lohhausen besonders wichtig waren. Zudem gingen „gute“ Versuchspersonen bei ihren Analysen mehr „in die Tiefe“ und interessierten sich stärker für den Einfluss verschiedener miteinander verflochtener Variablen auf Entscheidungen und den daraus resultierenden Folgen.

Was glauben Sie, welcher Zusammenhang besteht zwischen diesen Beobachtungen und dem Umgang mit komplexeren Informationen und Wissen im Internet?

Es ist ein Mythos zu glauben, dass jüngere Menschen – etwa die Generation der sogenannten digital natives (die Generation ab dem Jahrgang 1980) – wesentlich besser mit komplexeren digitalen Informationen und Wissen zurecht käme, nur weil der Umgang mit digitalen Technologie wie u. a. Computern, Smartphones und Tablet-PCs aufgrund der Sozialisation wesentlich stärker verinnerlicht worden ist.

Meines Erachtens besteht an dieser Stelle ein wesentlicher Denkfehler darin, dass wir von dem Umgang mit digitalen Technologien innerhalb dieser Generation viel zu stark auf das Potential in der Vernetzung von Informationen und Wissen schließen. Merken Sie etwas? Ja richtig: Wir unterstellen eine falsche kausale Beziehung. Wer mit digitalen Technologien besser umgehen kann, denkt auch automatisch vernetzter und erschließt sich somit wesentlich leichter komplexe Zusammenhänge. Falsch.

Der souveräne Umgang mit digitalen Technologien ist nur ein Einflussfaktor, der auf die Vernetzung von Informationen und Wissen einwirkt. Neben diesem Faktor spielt auch Ihre eigene innere Einstellung gegenüber digitalen Medien eine Rolle, Ihre Persönlichkeit – etwa ob Sie eine offene und neugierige Persönlichkeit sind oder eher nicht – sowie Ihr Erfahrungswissen und Ihre Allgemeinbildung.

Wenn Sie beispielsweise ein sehr aufgeschlossener Mensch sind und zudem über viel Wissen in unterschiedlichsten Themenbereichen verfügen, können Sie durchaus einer anderen Person im Umgang mit digitalen Informationen und Wissen überlegen sein, auch wenn Sie technisch bei weitem nicht so bewandert sind. Es kommt hier eher auf eine ausgewogene Mischung an und vor allem auf die Gabe, aufgeschlossen für Zusammenhänge zu sein und diese auch dementsprechend zu hinterfragen.

Das Hinterfragen ist wiederum eine Eigenschaft, die wir in unserem Alltagsverständnis häufig Menschen nachsagen, die mehr eine philosophische Ader besitzen. Ich las dazu erst heute Morgen ein gutes Beispiel. Wie wichtig ist der Zufall in unserem Leben? Bei vielen Menschen scheint heute die gegenteilige Tendenz zu bestehen: Man möchte sein Leben so weit wie möglich planen, etwa den nächsten Urlaub. Aber wo besteht ein Zusammenhang zwischen dem Zufall und der Erkenntnisgewinnung im philosophischen Sinne?

Von dem Philosophen Søren Kierkegaard wissen wir beispielsweise, dass er häufig über Stunden scheinbar planlos in Spaziergängen die nächste Umgebung erkundete. Dahinter verbirgt sich aber ein entscheidender Zug von Kierkegaard: Nämlich ungewöhnliche Dinge anzustellen, um so zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, die sich über einen anderen Weg auf diese Weise so vielleicht nicht erschlossen hätten. Die Frage schwingt hier mit, welche Möglichkeiten uns prinzipiell zur Verfügung stehen, bestehende Erkenntnisse zu erweitern oder gar durch vollkommen neue Einsichten zu revidieren.

Das Beispiel von Søren Kierkegaard lässt sich auch auf den Umgang mit Informationen und Wissen beziehen: Auf welche Weise lassen sich neben gewohnten Ansichten und geläufigen Deutungsmustern mehr ungewöhnliche Konstellationen erschließen? Derartige ungewöhnliche Konstellationen stellen sich entweder durch die Begünstigung des Zufalls ein (so wie das bei Kierkegaard der Fall ist) oder durch den tiefergehenden zweiten Blick auf einen bereits beobachteten Zusammenhang. Durch Recherchen im Internet können wir also einerseits den Zufall begünstigen, andererseits sollten wir aber auch nicht den ersten Rechercheergebnissen vertrauen, die sich bei einer ersten eher oberflächlichen Recherche ergeben haben.

Wie in dem Experiment von Dörner geht es darum, genauer zu hinterfragen, inwieweit unser vernetztes Denken u. a. durch regelmäßige Recherchen im Internet zu lernrelevanten Themen positiv beeinflusst werden kann und auf welche Strategien und Entscheidungen es dabei ankommt. Also: Wie lassen sich mit Hilfe des Internets vernetzte Zusammenhänge besser und nachhaltiger erschließen?

Den Blick für Zusammenhänge schärfen: die Spekulation mit Nahrungsmitteln

Wie definiert Dörner „Vernetzung“ bzw. welche Anforderungen müssen überhaupt erfüllt sein, damit wir von „Vernetzung“ sprechen können? Auf Entscheidungsprozesse bezogen, bedeutet „Vernetzung“ jeweils verschiedene Aspekte des gesamten Systems bei Entscheidungen mit zu berücksichtigen und nicht nur Einzelaspekte (Dörner 1995: 39).

Wenn ich als Bürgermeister von Lohhausen nur die Erhöhung von Steuern im Sinn habe und damit die Anhäufung von Kapital fokussiere, lasse ich bei dieser isolierten Betrachtungsweise zu stark außer Acht, dass dieses Vorhaben langfristig durchaus einen gegenläufigen Effekt erzielen kann: nämlich unter Umständen dazu führt, dass weniger Kapital zur Verfügung steht. Warum?

Durch die ansteigende Unzufriedenheit der Bürger kann es langfristig zu dem Phänomen kommen, dass die Erhöhung der Steuern und damit die Mehreinnahmen von Lohhausen nicht mehr im Verhältnis zu der Anzahl von Bürgern stehen, die aufgrund von kontinuierlich wachsenden Steuerbelastungen aus dieser Stadt ausgezogen sind.

„Vernetztheit“ bedeutet somit für Dörner, „dass die Beeinflussung einer Variablen nicht isoliert bleibt, sondern Neben- und Fernwirkungen hat. Die Vielzahl der variablen Merkmale bringt es mit sich, dass man die Existenz solcher möglichen Neben- und Fernwirkungen leicht übersieht“ (Dörner 1995: 39).

Und gerade der letzte Aspekt gilt auch im besonderen Maße für den Umgang mit vernetzten Informationen aus digitalen Bezugsquellen wie dem Internet, nämlich insofern, als dass man bei oberflächlichen Recherchen wichtige Neben- und Fernwirkungen schnell übersehen kann. Desto weniger Sie sich sich bei Ihren Recherchen im Internet ablenken lassen, desto mehr bleiben Sie den wichtigsten Neben- und Fernwirkungen auf der Spur. Ist das so?

Auf der einen Seite geht es um Aufmerksamkeit und Konzentration, auf der anderen Seite sollten Sie aber auch die Nebenschauplätze in Ihrer Recherche im Auge behalten, um auch weniger offensichtliche Einflussgrößen erspähen zu können. Die Gradwanderung zwischen diesen beiden Extremen ist hierbei das Entscheidende: Die Gradwanderung zwischen Fokussierung und Assoziation.

Stellen Sie sich vor diesem Hintergrund vor, Sie wären mit der Aufgabe konfrontiert, mit Hilfe von Google eine Recherche zu der Frage zu tätigen, welchen Einfluss die globale Lebensmittelproduktion auf das Hungerproblem in Afrika ausübt und welche Lösungsansätze für dieses Problem Ihrer Meinung nach denkbar sind.

Nehmen wir weiter an, Sie würden zusammen mit vier anderen Personen recherchieren und hätte insgesamt 4 Stunden Zeit dafür. Nehmen wir außerdem an, dass Sie innerhalb dieser Zeit auch eine multimediale Powerpoint-Präsentation zu diesen Zusammenhängen ausarbeiten müssten. In dieser Präsentation ginge es darum, zunächst sämtliche Variablen herauszufiltern, die mit Ihrem Problem zu tun haben, des Weiteren die Vernetzungsaspekte im Verhältnis zu Neben- und Fernwirkungen genauer darzulegen sowie Lösunsansätze am Ende Ihrer Präsentation vorzustellen. Anspruchsvoll oder?

In dem oben angeführten YouTube-Video zum Thema „Die Spekulation mit Nahrungsmitteln“ werden einige Einflussgrößen genannt, die mit unserer Fragestellung zusammenhängen.

„Der Nahrungsmittelpreisindex verzeichnete zwischen 2007 und 2008 eine 71% Preissteigerung bei den essentiellen Lebensmitteln“, heißt es in unserem Video-Beispiel. Durch diesen enormen Preisanstieg wurde das Hungerproblem dementsprechend verstärkt. Aber welche Gründe sind für den sagenhaften Preisanstieg von 71% zwischen 2007 und 2008 tatsächlich zu nennen?

Folgende Gründe werden häufig für diesen enormen Preisanstieg genannt:

  • Steigende Nachfrage
  • der Verfall des Dollarkurses
  • Vernachlässigung der Landwirtschaft
  • Export-Beschränkungen in wichtigen Erzeugerländern
  • Produktion von Biotreibstoffen
  • Schlechte Öl- und Düngemittelpreise
  • Schlechte Ernten

Die extremen Preisspitzen lassen sich durch die eben genannten Faktoren aber alleine nicht erklären. Auf unsere Vernetzungsaspekte bezogen bedeutet das, dass wir noch die Fernwirkung eines anderen Faktors zu beachten haben, der in unserem Beispiel eine sehr wichtige Rolle spielt: und zwar die immer mehr ausufernde Spekulation auf den Rohstoffmärkten.

Bei einer zu oberflächlichen Recherche können wir solche Faktoren schnell übersehen, was bedeutet, dass wir eigentlich nur sehr unzureichend erklären können, warum es zu solchen enormen Preisanstiegen in so kurzer Zeit in der globalen Lebensmittelproduktion zwischen 2007 und 2008 gekommen ist.

Der US-amerikanische Lernpsychologe Rand J. Spiro bezeichnet derartige Einsichten und Zusammenhänge, die durch das Recherchieren und Lernen mit Hilfe des Internets erschlossen werden, als „New Forms of Deep Learning on the Web“, also als „neue Formen des tieferen onlinegestützten Lernens“.

Text: Marcus Klug

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Literatur:

  • Dietrich Dörner (1995): Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Hamburg: Rowohlt.
  • Rand J. Spiro (2009): New Forms of Deep Learning on the Web: Meeting the Challenge of Cognitive Load in Conditions of Unfettered Exploration in Online Multimedia Environments. Abrufbar unter folgender Quelle: http://postgutenberg.typepad.com/newgutenbergrevolution/files/deep_learning_ on_the_web.pdf.
  • Ziegler, Jean (2013): „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet“. Isabelle Buckow im Interview mit Jean Ziegler. In: Zeit Wissen, Nr. 4, Juni/Juli 2013, S. 70.

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